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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Geheimnis.«
    Shan überlegte einen Moment. »Ich war ein schlechter Vater.«
    »Welcher Mann ist das nicht? Jeder, der ein Kind hat, ist mal guter, mal schlechter Vater.«
    »Ich war kein regierungstreuer Arbeiter.«
    »Das will ich auch hoffen. Meine Güte, Sie haben immerhin für die Volksrepublik gearbeitet.«
    »In meinem Herzen verspüre ich dauerhaften Schmerz«, sagte Shan schließlich. »Weil ich Chinese bin und China mich im Stich gelassen hat.«
    Seine Gedanken wurden immer verworrener, und er fragte sich, ob er zeitweise das Bewußtsein verloren hatte. Er rief Deacons Namen, und der Mann gab ein leises Stöhnen von sich. Dann schob Shan sich langsam vorwärts und berührte den ersten der verrotteten Pfeiler. »Falls es uns gelingen würde, den heruntergefallenen Balken anzuzünden, könnten wir ihn als Fackel benutzen und uns durch den Gang vorarbeiten«, rief er dem Amerikaner zu.
    »Die Flamme würde den letzten Rest Sauerstoff aufbrauchen«, wandte Deacon mit heiserer Stimme ein. »Und auch mit Licht könnte bei der geringsten falschen Bewegung alles einstürzen.«
    »Vielleicht wäre das besser als ein langsamer Tod innerhalb der nächsten paar Stunden«, sagte Shan.
    Er hörte Deacon näher kriechen. Als der Amerikaner ihn erreicht hatte, ertastete Shan im Dunkeln seine Hand und legte sie auf den Balken. Dann holte er eines seiner Streichhölzer hervor, riß es an und hielt es ans Ende des Pfeilers. Das Holz schwelte, aber entzündete sich nicht.
    »Nicht heiß genug«, stellte Deacon nüchtern fest. »Vielleicht sollten wir zunächst ein paar vertrocknete Späne aufhäufen.«
    Auch dieser Versuch schlug fehl. Deacon hatte noch drei Streichhölzer übrig, Shan vier. Sie legten den Vorrat des Amerikaners in den kleinen Holzstoß und entzündeten das Ganze mit einem von Shans Streichhölzern. Der Haufen flammte zischend auf, doch gleich darauf sank die Flamme in sich zusammen und erlosch. Schweigend holte Shan die Zettel aus seinen Taschen, die Notizen und Beweisstücke, knüllte sie zusammen, schichtete sie auf und zündete sie an. Sie brannten mit kleiner, aber stetiger orangefarbener Flamme. Er legte einige Holzspäne nach, während Deacon den Pfosten über das Feuer hielt. Zwei Minuten später verfügten sie über eine Fackel und krochen durch den baufälligen Tunnel.
    Einer der Balken senkte sich, als Deacon vorbeikam, und brach dann hinter ihm durch. Anschließend schlängelten sie sich über einen Schutthaufen, der die Hälfte des Ganges einnahm. Shan bewegte sich im Schneckentempo vorwärts, wohl wissend, daß jede Bewegung die letzte sein konnte. Sie kamen nur quälend langsam voran. Einmal stürzte ein Teil der Seitenwand ein und begrub Deacons Arm unter sich. Vorsichtig machte der Amerikaner sich wieder frei und bedeutete Shan, den Weg fortzusetzen. Zweimal schien die Fackel beinahe erlöschen zu wollen, aber Shan streckte sie so weit wie möglich vor, bis sie neuen Sauerstoff bekam und wieder aufloderte.
    »Die Wand!« rief Deacon plötzlich in lautem Flüsterton.
    Zu beiden Seiten befanden sich solide, große Steine; die Decke war aus langen Felsplatten gefertigt.
    »Das Fundament eines Gebäudes!« krächzte der Amerikaner aufgeregt. »Es muß einen Zugang geben.«
    Sie beeilten sich. Dann, nach sechs oder sieben Metern, erstarrte Shan. Fünf Meter vor ihm schwebte ein Geist in der Dunkelheit, ein glühender, schimmernder Umriß. Deacon sah es ebenfalls und stieß einen Fluch aus. Shan kroch näher heran, und auf einmal machte sein Herz einen Freudensprung. Es war Licht, ein kleiner Strahl Tageslicht. Aber er drang nur durch einen winzigen, wenige Millimeter breiten Riß im Stein.
    Der Tunnel führte um eine Biegung, und dann sah Shan unvermittelt eine Flamme mit einem Gesicht darin vor sich. Der Anblick erschreckte ihn so sehr, daß er die Fackel fallen ließ.
    Das Gesicht fing an zu sprechen und hatte die Stimme einer Frau. »Shan!« rief das Gesicht, und da erkannten sie Jakli, die eine Fackel vor sich ausgestreckt hielt.
    Fünf Minuten später erreichten sie den Ausgang und sogen gierig die frische Luft in ihre Lungen, noch während Akzu und Kaju sie durch eine sechzig Zentimeter breite Öffnung in der Tunneldecke zogen, mitten hinein ins blendend helle Sonnenlicht. Sie befanden sich in einer Ruine in der Dünenflanke am nördlichen Ende der Senke.
    »Die Taschenlampe hat kaum noch funktioniert«, erklärte Kaju und streckte ihnen eine Wasserflasche entgegen. »Wir konnten damit nicht

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