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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hatte. Sie fragte ihren Onkel um Rat. Am Wildbärenberg, bei der Furt des Zartwasserflusses, hatte Marco gesagt. Akzu kannte das Lager auch nicht, aber er wußte, wo sie einen Führer auftreiben konnten.
    »Ich dachte schon, ein Staubdämon hätte dich geholt«, sagte Akzu nachdenklich. Er hatte der Schilderung ihrer Passage durch die Tunnel vermeintlich ungläubig gelauscht. Nun musterte er den Sand auf ihrer Kleidung, ihrer Haut und ihren Haaren und nickte ernst, als würde es seinen Verdacht bestätigen. »Und manchmal bringen solche Dämonen dich auch genauso schnell wieder zurück«, stellte der alte Kasache fest. »Du würdest dich nicht daran erinnern.«
    Kaju ließ unentschlossen den Blick über die Landschaft schweifen, als hielte er nach weiteren Fluchtwegen Ausschau. Er würde in fünf Tagen zum nächsten Unterricht wiederkommen müssen. Das hatte er dem Amerikaner versprochen, denn es war verabredet worden, daß Deacons Sohn sich an jenem Tag wieder in die Obhut seiner Eltern begeben würde.
    Jakli schien Shans Gedanken zu lesen, während sie nach Westen fuhren und sich dabei von der Wüste entfernten.
    »Marco ist mit Sophie irgendwo da draußen«, versicherte sie. »Er wird Ihre Freunde finden. Es gibt keinen Besseren für diese Aufgabe. Er wird sie in Sicherheit bringen. Vermutlich sind sie jetzt schon gemeinsam zu seinem Haus unterwegs und singen russische Liebeslieder.«
    Eine halbe Stunde später hielt Jakli an einer Kreuzung, auf der sich zahlreiche Menschen drängten. Ganz in der Nähe standen eine Hütte und ein Drahtgehege mit einer Schafherde darin. Shan und Jakli stiegen aus und gesellten sich zu den anderen. Mehr als zwei Dutzend Leute bevölkerten die Kreuzung. Manche hielten Steine in der Hand, andere saßen ehrfürchtig vor einem anwachsenden Felshaufen. Einige lauschten einem Mann, der auf einem der breiten Zaunpfosten des Geheges saß und eine lebhafte Rede hielt. Ein Reiter näherte sich und fragte nach dem heiligen Ort. Der Mann auf dem Pfahl wies auf den Felshaufen, woraufhin der Reiter von seinem Pferd stieg und die Schwinge eines großen Vogels von seinem Sattel losband, um sie sogleich an den Steinen zu befestigen.
    Die Leute knieten nieder. Es handelte sich um einen Schrein zu Ehren eines dort geschehenen Wunders. Man hatte die Steine in Form einer steilen Pyramide von fast zweieinhalb Metern Höhe aufgeschichtet, in deren Spitze ein Pfahl steckte. An diesem Pfahl war ein Seil befestigt, dessen anderes Ende man in knapp fünf Metern Entfernung an einen Pflock im Boden gebunden hatte. An dem Seil hing ein tibetisch beschriftetes Stück Stoff. Eine Gebetsfahne. Shan war verwirrt. Buddhisten, die aus den Bergen herabgekommen waren, fügten weitere Gebetsflaggen hinzu. Die Kasachen und Uiguren opferten hingegen Federn, Pelzstücke und diese eine Vogelschwinge.
    Shan ging durch die andächtigen Reihen und stellte Fragen. Gestern, am späten Nachmittag, waren zwei tibetische heilige Männer hier vorbeigekommen und hatten mit ihren Eseln an der Kreuzung gerastet. Andere Menschen hatten sich zu ihnen gesellt, insgesamt neun oder zehn: alte Frauen, kleine Kinder, ein Hirte mit einem schlimmen Bein. Manche waren auf Pferden oder Eseln gekommen, andere zu Fuß. Wie bei einer Pilgerfahrt in der guten alten Zeit, sagte eine grauhaarige Frau.
    Einer der heiligen Männer, gekleidet in eine buddhistische Robe, hatte mit jedem der Leute gesprochen, sogar mit den Kindern. Der andere Mann, der beim Reden immer zwinkerte, hatte ihnen zwar ebenfalls gelauscht, aber nicht ihren Worten, sondern ihren Körpern. Er verstand, was Arme, Beine und Mägen zu sagen hatten und was niemand sonst hören konnte. Manchen der Leute hatte er Kräuter gegeben, anderen Ratschläge, welche Übungen sie mit ihren Gliedern vollführen sollten. Eine Nomadenfrau war mit ihrem Baby angeritten gekommen und hatte den Dünnen in dem roten Gewand gebeten, dem Kind einen Namen zu geben. Früher, erinnerte Shan sich, hatten die Tibeter stets ihre Lamas gefragt, welche Namen ihre Kinder tragen sollten.
    Dann hatte der Mann in der Robe bestimmte Bußgänge angeordnet. Eine Frau sollte ihren Bruder aufsuchen, mit dem sie seit zehn Jahren kein Wort mehr gewechselt hatte, weil er ihr ein lahmendes Pferd andrehen wollte. Eine andere Frau würde zu einem Bergsee reisen und von dessen Wasser trinken, um danach ein Obdach zu errichten, das den wilden Tieren im Winter Schutz bieten sollte. Der Mann mit dem kranken Bein war an den

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