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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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offenbar einen näheren Blick auf die Konstruktion werfen wollte. Von den anderen war nicht das geringste zu hören. Vielleicht lagen sie unter einem Einsturz verschüttet und waren bereits tot, und womöglich wäre das immer noch besser, als langsam und qualvoll in der Finsternis zu ersticken. Shan spürte etwas an der Hand. Feuchtigkeit. Er wischte den Sand von einem der Bodensteine und hielt einen Finger auf die Stelle. Kurz darauf war sein Finger feucht. Er schob den Sand beiseite und legte die Wange auf den feuchten Stein. Es hatte etwas von einem Wunder an sich, dachte Shan. Als würde diese Feuchtigkeit auf etwas sehr Machtvolles hindeuten, als wäre sie tausend Jahre alt, ganz ähnlich dem Gefühl, das Shan empfunden hatte, als er die Mumie des Pilgers berührte.
    Er drückte seine Wange fest auf den Stein. Einst hatte er ein altes gompa besucht, vor dem sich ein Brunnen befand, an dem die Pilger ihren Durst löschten. Zur Zeit der chinesischen Invasion war ein khampa -Mädchen dorthin gegangen, nachdem die Soldaten es gezwungen hatten, die eigenen Eltern zu erschießen. Sie hatte eine ganze Woche am Rand des Brunnens geweint, und die Mönche hatten später die Öffnung abgedeckt, damit die Invasoren den Schacht nicht finden und zuschütten konnten. Nur für Besuche der Gläubigen wurde der Brunnen geöffnet. Die Tränen des Mädchens seien noch immer im Wasser enthalten, sagten die Mönche ernst, denn sobald sie erst einmal in den Schacht gefallen waren, würde auf ewig ein Rest von ihnen im Brunnen verweilen, ganz gleich, wie viele Eimer man herausschöpfte.
    Shan spürte die Feuchtigkeit auf seiner Wange und überlegte, wie viele Tränen sich wohl mit ihr vermischt haben mochten. All die Menschen, die während vieler Jahrhunderte in den nahen Bergen geweint hatten, würden Reste ihrer Tränen in diesen Wassern wiederfinden. Er erkannte, daß sein kürzlich noch so großer Durst verflogen war. Etwas aus dem Gespräch mit Malik fiel ihm wieder ein. Ob man so wohl bemerkt, daß man tot ist? Weil man keinen Durst mehr hat? hatte Malik gefragt.
    »Wenn Berge sprechen können, was haben Wüsten dann wohl zu sagen?« fragte Deacon in der Dunkelheit.
    »Das gleiche«, erwiderte Shan, »nur voller Trauer.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »In die Wüste gehen Berge, wenn sie sterben müssen.«
    Dann herrschte wieder Stille. Shans Bewußtsein schien zu schwinden, als würde er einschlafen. Er hielt sich einen Finger vor die Augen und konnte nicht erkennen, ob sie offen oder geschlossen waren. Er hörte etwas. Musik und eine Falsettstimme. Falls Wassertropfen Jahrhunderte überdauern konnten, traf das eventuell auch auf Geräuschfetzen zu, die irgendein uralter Wind in die karez getrieben hatte. Vielleicht taten Winddämonen genau das: Sie sammelten Stücke menschlichen Lebens und deponierten sie an stillen dunklen Orten.
    Shan roch Ingwer und vernahm eine Stimme, die unverkennbar seinem Vater gehörte. Anfangs waren es keine Worte, sondern Geräusche, als würde sein Vater eine Melodie summen, um ihn zu trösten. Dann hörte er seinen Vater etwas sagen, in einer Sprache, die dieser gar nicht beherrscht hatte. Khoshakhan, sagte er zu Shan. Khoshakhan.
    Etwas Sand rieselte ihm in den Mund. Shan mußte würgen und husten und wachte wieder auf.
    »Damals, als der Steinsee noch eine Oase war, hat es hier bestimmt sehr viele Grillen gegeben«, sagte er matt.
    Deacon lachte leise auf. »Wir haben letzte Woche eine Schriftrolle gefunden. Eine Abhandlung über geeignetes Futter für singende Grillen. Aus der Zeit der Ming-Dynastie. Ich will den Text Micah zeigen. Wir werden ein paar der Rezepte zusammenmischen und ausprobieren, ob es funktioniert.«
    »Am Vollmondtag.«
    »Ja.« Der Amerikaner hielt kurz inne, bevor er weitersprach. »Es wird bestimmt schlimm für ihn.«
    »Schlimm?«
    »Wenn er von Khitai erfährt. Die Maos haben uns erzählt, was geschehen ist.«
    »Die beiden waren befreundet.«
    »Sogar sehr eng. Sie haben zusammen jede Menge Unfug angestellt. Es hat uns wirklich gefreut, als wir hörten, Micah habe einen Bruder gefunden. Warp hat in Gedanken schon unser Haus umgebaut. Und Fahrräder gekauft.«
    »Ich verstehe nicht ganz.«, setzte Shan an und begriff dann, daß Deacon die Zukunft gemeint hatte. Er rollte herum, so daß sein Rücken auf der feuchten Stelle zu liegen kam, und streckte eine Hand in die Finsternis aus. Er war blind und sah doch klarer als je zuvor. Marco wußte nicht, wohin Lau den Yakde Lama

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