Das Auge von Tibet
Schlafplatz der jungen Fohlen geschickt worden, um dort zu meditieren. »Ein synshy«, sagte der soeben eingetroffene Reiter wissend. »Der Mann in der Robe war ein Pferdesprecher.« Mehrere der Anwesenden nickten beipflichtend.
Aber das sei nicht das Wunder gewesen, erklärte der Mann auf dem Zaunpfosten. Das eigentliche Wunder sei später geschehen, als die Kriecher eintrafen. Shans Kopf ruckte hoch. Sein Magen zog sich zusammen. Nur drei junge Kriecher in einem kleinen Lastwagen waren gekommen. Anscheinend hatten sie nach den heiligen Männern gesucht, denn zwei hatten bewaffnet Wache gestanden, während die dritte, eine Frau, aufgeregt ins Mikrofon ihres Funkgeräts gesprochen hatte.
Die Leute waren wütend geworden und hatten den Kriechern gesagt, sie sollten gefälligst nach den Mördern der Kinder suchen und nicht nach alten Männern. Die Kriecher hatten daraufhin Handschellen hervorgeholt, und dann hatte jemand einen Stein nach ihnen geworfen. Sie hatten ihre Waffen gezogen, und einer hatte mehrere Schüsse in die Luft abgegeben. Der Mann mit der Robe - Gendun - hatte sich die Ohren zugehalten, und als das Schießen aufhörte, hatte er die Hände sinken lassen und den Mann gefragt, ob er fertig sei. Man könne so nämlich kaum ein Wort miteinander wechseln. Der Chinese hatte ihn verwirrt angesehen und sich entschuldigt.
Dann war Gendun vor den Kriecher getreten, den der Steinwurf getroffen hatte. Er hatte den Menschen erklärt, sie sollten den jungen Soldaten kein Leid zufügen. Dann hatte er mit Lokesh gesprochen, und Lokesh hatte die Handschellen genommen und sie Gendun angelegt, während Gendun seinerseits Lokesh ein anderes Paar Handschellen umgelegt hatte. Dann hatte der Lama die Kriecher eingeladen, sich kurz zu ihnen zu setzen und gemeinsam etwas zu essen. Zwei der Kriecher waren der Einladung gefolgt, und Gendun hatte ein Gebet gesprochen, während ein Hirte nan-Brot verteilte. Gendun hatte die Kriecher nach ihren Namen gefragt und erklärt, die Soldatin habe ein starkes Gesicht und würde sich bestimmt gut als Ehefrau eines Hirten eignen. Die Leute hatten gelacht.
Doch selbst das sei noch immer nicht das Wunder gewesen, sagte der Mann auf dem Pfosten mit theatralischer Geste. Das Wunder war geschehen, als eine Limousine eintraf und die Jadehure ausstieg. Die Menschen waren erschaudert und einige weggelaufen. Die Anklägerin hatte schweigend dagestanden und die Tibeter und die Kriecher betrachtet. Lächelnd und in Handschellen war Gendun zu ihr gegangen. Lange Zeit hatte sie wortlos seinen Blick erwidert, fast wie in Trance. Dann hatte sie in ihr Funkgerät gesprochen und den Kriechern befohlen, die beiden Männer freizulassen und wegzufahren. Die Kriecherin hatte protestiert, woraufhin die Anklägerin sie angeschrien hatte. Bevor die Kriecher aufbrachen, hatte die Anklägerin sich die Handschellen der zwei Tibeter geben lassen. Die Leute hatten geglaubt, sie würde die beiden jetzt selbst in Gewahrsam nehmen und in das Straflager am Fuß der Berge bringen. Aber die Jadehure war zu ihnen gegangen, hatte die Handschellen vor ihnen zu Boden fallen lassen und war weggefahren. Das war das Wunder gewesen.
Die Handschellen lagen noch immer an derselben Stelle. Man hatte den Felshaufen genau darüber errichtet.
Shan warf einen stummen Blick darauf und sah dann Jakli an.
»Xu will die beiden bloß nicht mit den Kriechern teilen«, sagte Jakli. »Sie will sie ganz für sich allein, ohne daß die Kriecher davon Wind bekommen.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Shan und starrte erneut den Felshaufen an. »Manchmal geschieht tatsächlich ein Wunder.« Er suchte sich ebenfalls einen Stein für die Gedenkstätte und fragte dann den Mann auf dem Zaunpfosten, was danach passiert war. Die Nacht sei hereingebrochen, sagte er, und sie hätten ein Feuer entzündet und unter dem Sternenzelt noch lange geredet. Als die Sonne aufging, seien die heiligen Männer nicht mehr dagewesen.
Shan schaute in Richtung der Wüste. In einigen Stunden würde es abermals dunkel sein - und kalt.
»Sie haben nicht mal einen Kompaß dabei«, sagte Jakli mit gequälter Stimme.
»Doch, das haben sie«, versicherte Shan. »Allerdings keinen, den Sie oder ich lesen könnten.«
»Marco und Sophie sind inzwischen beim Tränenbrunnen. Sophie kann sie finden. Sophie kann sie riechen. Wahrscheinlich ist Marco zuvor in Karatschuk gewesen. Vielleicht hilft Osman ihm. Und Nikki«, fügte Jakli leise hinzu.
Aber als sie eine halbe Stunde
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