Das Auge von Tibet
hatte bringen wollen. Deacon hingegen schon.
»Khitai«, sagte Shan. »Jetzt verstehe ich. Sie wollten ihn nach dem nächsten Vollmond mit nach Amerika nehmen.« Es war eine sonderbare Situation. Sie sprachen über die Zukunft, als wäre sie nicht länger ein Teil von ihnen, als ginge es um das Leben anderer Leute.
Deacon antwortete nicht.
»Ich weiß darüber Bescheid. Der Panda. Die Medaillons. Ich wußte nur nicht, wie weit er reisen würde.«
»Jemand hat einmal zu mir gesagt, man solle keine Geheimnisse mit ins Grab nehmen. Also schätze ich, wir können uns ruhig gegenseitig alles mitteilen.« Deacon atmete mehrfach tief durch. »Schon lange bevor der ganze Ärger anfing, haben Micah und Khitai zusammen Zukunftspläne geschmiedet. Dann kam Lau vor einem Monat ganz aufgeregt zu uns und erklärte, wer der Junge war. Sie sagte, es habe sich manches verändert und sie müsse vielleicht von hier weggehen. Auch Khitai benötige dringend ein neues Zuhause. Ob wir nicht behaupten könnten, er sei unser chinesischer Adoptivsohn? Warp war sofort Feuer und Flamme, als sei uns das alles vorherbestimmt gewesen. Marco kann uns rausbringen, sagte sie. Er kennt viele Leute und hat jede Menge Geld auf ausländischen Konten. Er hat uns aus Pakistan Papiere verschafft. Amerikanische Pässe.« Deacon seufzte.
Die Grabesstille. Sie macht dem Amerikaner ebenfalls zu schaffen, dachte Shan. Die Stille schien zu schreien. Sie wirkte beinahe greifbar, als würde sie physisch auf ihnen lasten, als würden um sie herum die Tunnel zusammenschrumpfen. Er hob langsam die Hand, bis er die Decke berührte.
»Ich begreife es nicht«, sagte Shan.
»Was?« fragte der Amerikaner. Sogar die Geräusche schienen sich verlangsamt zu haben. Shan kam es so vor, als wäre zwischen seiner Frage und Deacons Antwort eine Ewigkeit vergangen.
»Weshalb Sie und Ihre Frau nach Xinjiang gekommen sind. Warum Sie Ihren Sohn in die Obhut von Clanmitgliedern gegeben haben, die Sie nicht besonders gut kennen.«
Deacon blieb so lange stumm, daß Shan sich fragte, ob er womöglich zu atmen aufgehört hatte. »Ein Splitter«, sagte er. »Der Auslöser für all das war ein Splitter. Wir waren im Dschungel des Amazonas. Der Splitter hatte sich schlimm entzündet. Ich war mit Warp und unseren Führern unterwegs, zwei Indios. Wir wollten einen Artikel über die Webkunst eines der aussterbenden Stämme schreiben. Ich bekam Wahnvorstellungen. Ich war mir sicher, ich würde sterben. Dann kam das Fieber. Immer wieder Ohnmachtsanfälle. Warp saß bei mir, wischte mir die Stirn ab und sprach mit mir, während die Indios im Dschungel nach Medizin suchten. Ich schwor mir, falls ich überlebte, würde ich alles verändern. Wir würden alles verändern.«
Mühsam und in der verbrauchten Luft immer wieder unterbrochen durch tiefe Atemzüge, erklärte Deacon ihm, daß er den Großteil seiner Jugend als Weltenbummler auf Abenteuersuche verbracht hatte. Das von seinem Vater, einem Autohändler, geerbte Vermögen war dabei überwiegend auf der Strecke geblieben. »Ein Monat per Kajak durch Tansania. Vier Bergbesteigungen in Alaska und Nepal. Bungee-Jumping in Neuseeland. Die Anden. Ein Monat in Peru. Ein Monat in Patagonien.«
»Auf Forschungsreisen?«
»Nein. Nach unserer Heirat hat Warp mich auf manchen meiner Reisen begleitet und die Gelegenheiten genutzt, danach etwas Geld mit einem entsprechenden Artikel zu verdienen. Mir ging es bloß um den Nervenkitzel. Sie hat dafür gesorgt, daß wir uns vorübergehend niederließen, damit ich endlich erwachsen würde, wie sie sagte. Wir haben Jobs an der Universität bekommen. Micah wurde geboren. Dann waren wir eines Tages in einem Einkaufszentrum, so einem Betonlabyrinth, in dem alle möglichen Geschäfte untergebracht sind. Wir hatten einen großen Korb voller Spielwaren und warteten in der Kassenschlange. Auf einmal sah ich, daß Warp weinte, daß richtig große Tränen über ihre Wangen liefen. Sie sagte, hier stehen wir also und machen einfach so weiter, wie alle anderen auch, und unterdessen geht unser Leben vorbei. Solange man kleine Kinder hat, geht man in diese riesigen Spielzeugläden und kauft teure Sachen aus Plastik. Die Kinder werden größer, und man geht in einen anderen Laden und kauft ihnen teure elektrische Sachen. Später ist es dann teure Kleidung. Falls man richtig viel Geld hat, teure Schuhe und teure Autos. Man definiert die eigene Existenz und den persönlichen Stellenwert in der Herde durch die Geschäfte,
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