Das Auge von Tibet
zu Ihnen zurückkehren. Und dann haben wir ziemlich lange gebraucht, um Holz für eine Fackel auf zutreiben.«
Sie tranken mit großen Schlucken. Jakli und die Jungen erzählten unterdessen Akzu von der Tortur in der Dunkelheit und der wundersamen Rettung Deacons und Shans.
Aber Shan war nicht nach Feiern zumute. Er suchte nach den Zetteln, die nicht verbrannt waren, weil er sie im Tunnel zufällig nicht als erstes in die Finger bekommen hatte. Das kleine Stück Papier mit den Abkürzungen, das er bei dem toten Amerikaner gefunden hatte, war noch da. Er faltete es wieder zusammen und steckte es sich in die Hemdtasche. Das einzige andere Blatt war die Kartenskizze, die er von Karatschuk angefertigt hatte. Er drehte das Papier um. Es stammte aus dem Abfalleimer der Gaststube. Zuvor hatte der Tadschike darin den gestohlenen Baseball eingewickelt. Damals war Shan nichts Verdächtiges daran aufgefallen. Er hatte die kleinen, unterschiedlich schattierten Striche zwar gesehen, aber für zufällige Tintenflecke gehalten.
Deacon kam zu ihm und reichte ihm die Flasche. »Ich habe mir etwas überlegt, Shan«, sagte er und hockte sich neben ihn. »Sie sollten nächste Woche aich kommen. Um mit meinem Sohn und mir unter dem Vollmond zu sitzen. Ich möchte es gern. Ich hatte mich da unten schon völlig aufgegeben. Sie haben mir das Leben gerettet.«
Aber Shan hörte ihm nur mit einem Ohr zu. Er sah Jakli an, die ihn plötzlich mit qualvoller Miene anstarrte. Sie löste sich von Akzu und kam zu ihm. »Bao hat sich nicht etwa von Akzu abwimmeln lassen«, sagte sie. »Er ist von hier verschwunden, weil über Funk die Meldung hereinkam, man habe an der Fernstraße zwei alte Tibeter gesehen.«
Shans Kopf sank herab. Geistesabwesend betrachtete er das Stück Papier in seiner Hand und kämpfte gegen eine Woge der Verzweiflung an. Da packte auf einmal der Amerikaner eine Ecke des Zettels und zog daran.
»Wo, zum Teufel.«, rief Deacon und beugte sich vor, um die gestrichelte Linie am oberen Ende der Seite genauer in Augenschein zu nehmen.
»Dieser Tadschike hatte es bei sich, neulich in Karatschuk«, sagte Shan. »Wissen Sie, was das ist?«
»Aber natürlich. Eine genetische Sequenz. Die Kopie eines unserer Laborergebnisse. Was hat das zu bedeuten?«
Shan überlegte kurz und blickte dann beunruhigt auf. »Dieser Tadschike war weitaus schlauer, als ich vermutet habe. Er hat nicht versucht, Ihren weißen Ball zu entwenden. Der Ball war nur als Tarnung gedacht, um die Aufmerksamkeit abzulenken, falls man ihn erwischte. In Wirklichkeit wollte er das hier stehlen, um es jemand anderem zu bringen.«
»Mein Gott.« Deacon ließ sich auf den Sand sinken und deutete auf einige Ziffern am Rand des Blattes. »Die Registriernummer unseres Labors in den Vereinigten Staaten. Das alles muß bis zur Veröffentlichung geheim bleiben. Falls dieser Code vorher bekannt wird, schließt man uns den Laden.
Die Kriecher werden wissen, wer wir sind. Washington und Peking werden sich auf uns stürzen.« Deacon trank den letzten Schluck Wasser und zurrte die Riemen seines Rucksacks fest.
Shan hatte noch ein Streichholz übrig. Er benutzte es, um den Zettel zu verbrennen, und blickte dem Amerikaner schuldbewußt hinterher, als der im Laufschritt zu seinem Pferd eilte. Die schlimmste Neuigkeit hatte er Deacon gar nicht mitgeteilt: Sein Sohn, der letzte versteckte Junge der zhe/i, war nun zweifellos das nächste Ziel der Mörder.
Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht gewesen, in der Wüste begraben zu werden, dachte Shan zerstreut. Er mußte nun eine schwerwiegende Entscheidung treffen. Mehrere Leute befanden sich in Gefahr, würden verhaftet oder ermordet werden. Er konnte nicht alles auf einmal verhindern. Entweder versuchte er, Gendun und Lokesh zu retten, oder er bemühte sich, den nächsten zhe/i-Mord zu vereiteln.
Kapitel 19
Es kam Shan so vor, als seien während des Aufenthalts in den karez mehrere Tage vergangen, doch als sie die Fernstraße erreichten, war es erst früher Nachmittag. Zum Abschied umarmte Akzu seine Nichte mehrfach und ließ sie dabei jedesmal versprechen, rechtzeitig zum nadam zu erscheinen. Zuerst lächelte sie, dann lachte sie leise. Ihre Tanten hätten insgeheim ein Hochzeitskleid für sie angefertigt, erzählte Akzu, also müßte sie früh genug auftauchen, aber überrascht tun. Bevor der Kasache aufbrach, erkundigte Shan sich bei Jakli, ob sie den Weg zu dem Lager kannte, in das Marco den tadschikischen Dieb geschickt
Weitere Kostenlose Bücher