Das Auge von Tibet
verschwanden. Auch der Bus bog auf die Fernstraße nach Kashi ein. Unmittelbar darauf setzte der Geländewagen der Brigade sich in Bewegung und folgte den Kriechern.
Shan und Jakli holten Marco am Dorfbrunnen wieder ein, wo Sophie ausdauernd trank, während er ihr die rote Tinte abwusch. »Ich habe vier verfluchte Stunden hier vergeudet«, polterte er.
Sehnsüchtig sah Shan dem eluosi hinterher, als er Sophie in schnellem Trab die Takla Makan ansteuern ließ. Dann wandte er sich an Jakli. »Huf, dieser Tadschike, ist der Schlüssel. Wir müssen ihn vor Ko oder den Kriechern finden.«
Ihre robusten Pferde kletterten schon seit Stunden bergauf und folgten dem jungen Mädchen, in dessen Lager sie den Lastwagen zurückgelassen hatten. Sie ritten so schnell wie möglich, immer im Trab, so daß die Tiere sich quälten. Der Blick des Mädchens blieb zumeist auf den Pfad gerichtet, wo plötzlich vereiste Stellen auftauchen und die Pferde straucheln lassen konnten, und hob sich immer wieder kurz in den Himmel, weil ein unverhofft erscheinender Hubschrauber noch weitaus schlimmere Folgen zeitigen würde. Zweimal hielten sie in kleinen Hirtenlagern. Dort erhielten Shan und Jakli sogleich frische Pferde. Niemand stellte viele Fragen. Beim ersten Halt sagte das Mädchen, es ginge um die ermordeten Jungen der zheli , und sie bekamen nicht nur neue Tiere, sondern auch eine Tasse Tee. Im zweiten Lager erzählte ein Mann ihnen von den heiligen Männern, und als Jakli sagte, Shan gehöre zu den beiden Tibetern, bot man ihnen die Pferde an, ohne daß sie darum bitten mußten.
Schließlich erreichten sie in großer Höhe einen Lagerplatz, auf dem eine einzelne Jurte stand. Nur ein kurzes Stück oberhalb begann ein ausgedehntes Eisfeld, aus dem ein schmales Rinnsal entsprang und offenbar den Wasserbedarf der Hirten deckte. Vor dem Zelt saß eine Frau mittleren Alters an einem Feuer. Sie trug eine schmutzige rote Schürze und war damit beschäftigt, kleine Stücke sonnengetrockneten Käse auf eine Schnur aufzufädeln. Dicht neben der Filzwand der Jurte stand windgeschützt ein Junge von höchstens sechs Jahren und bearbeitete in gleichmäßigem Rhythmus ein Butterfaß. Die Frau nickte zum Gruß, brach dann ein Stück aus einem Block schwarzen Tees und ließ es in einen Kessel am Rand des Feuers fallen. Ihr Antlitz war freundlich, aber traurig. Shan erinnerte sich. Sie waren im Lager von Osmans Onkel, dessen einer Sohn kürzlich an einem Fieber gestorben war.
Die Frau goß ihnen Tee ein und sagte, die Hirten würden bei Sonnenuntergang zurückkehren. Dann deutete sie auf die Kissen und Decken, die sich im hinteren Teil der Jurte auftürmten. Shan war todmüde.
Ein Chor blökender Schafe weckte ihn. Der letzte Rest Tageslicht zeigte sich als dunkelroter Schimmer über den westlichen Gipfeln. Das Feuer loderte hell, und daneben hockte ein grauhaariger Mann mit einer Blechtasse Tee in der Hand. Überall waren Schafe, so daß die Jurte wie eine Insel in einem Meer aus Tieren wirkte. Inmitten der Herde sah Shan noch zwei weitere Gestalten in schweren dunklen chubas . Die eine, eine ältere Frau, kam auf das Feuer zu. Die andere, die zudem eine schwarze Filzmütze trug, blieb zurück und setzte sich auf einen Felsen dicht neben einen großen Mastiff, der anscheinend Wache hielt.
Zwei weitere Mastiffs lagen nahe beim Feuer, einer mit dem Kopf auf dem Rücken des anderen, und schauten Shan mißtrauisch entgegen, während er sich näherte. Ein kleinerer, weißer Hund rannte zwischen den Schafen hervor und ins Zelt. Als Jakli und ihre Führerin aufwachten, bekam jeder eine Schüssel Joghurt vorgesetzt, dazu nan und getrocknetes Fleisch. Ihre Gastgeber nickten höflich, sprachen aber mehr mit den Hunden als mit den Gästen. Jakli holte eine Tüte runder Bonbons hervor, die begeisterten Anklang fand und herumgereicht wurde. Schließlich trat auch der Mann mit der schwarzen Mütze näher, weil sein Hunger offenbar stärker wurde als seine Angst.
Anfangs war Shan sich nicht sicher gewesen, ob er ihn wiedererkennen würde, aber sobald der Mann in den Feuerschein trat, erinnerte Shan sich daran, wie der Tadschike ihn angesprungen und mit wildem Blick auf seine Brust »Wir sind hergekommen, um mit dir zu reden, Huf«, sagte Jakli.
Der Tadschike stieß lediglich ein Grunzen aus und nahm aus den Händen der Frau eine Schüssel Joghurt entgegen.
»Er kennt sich mit Schafen aus«, sagte sie, als müsse Huf verteidigt werden. »Die meisten der Hunde
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