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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Kamel schrie. Mehrere Hände packten Shan. Etwas Feuchtes berührte seine Hand, und jemand zog ihm eine Mütze tief ins Gesicht. Kaum hatte er sich aufgerappelt, zerrte Jakli ihn auch schon in die Menschenmenge, die dem Kamel hinterherlief. Kurz darauf beruhigte Sophie sich im festen Griff eines alten Kasachen, der sie daraufhin zurück zu Marco führte. Jakli schob Shan in den Schatten eines Durchgangs. Er sah auf seine Hand und entdeckte einen aufgestempelten Kreis aus fünf roten Sternen. Nun konnten Jakli und er sich frei auf dem Marktplatz bewegen. Sobald sie an Kriechern vorbeikamen, zeigten sie beiläufig ihre Stempel vor.
    Am Tisch der Offiziere wurde soeben ein weiterer Mann genauer in Augenschein genommen.
    »Fragen Sie jemanden, ob das da auch ein Tadschike ist«, flüsterte Shan.
    Ja, es war ein Tadschike, bestätigte eine beinahe zahnlose alte Frau. Shan erschauderte. Obwohl Bao es so sehr auf subversive Ausländer abgesehen hatte, suchte die Öffentliche Sicherheit auf einmal nach einem Tadschiken.
    »Diese Narren haben keine Ahnung«, fügte die Alte hinzu.
    »Die Tadschiken sind nach Yutian gereist. Direktor Ko hat ihnen allen neue Kleidung versprochen, amerikanische Bluejeans. Als besondere Anerkennung des gesellschaftlichen Beitrags der Tadschiken.«
    Shan sah die alte Frau verwirrt an, während Jakli ihn bereits in die Schatten am Straßenrand zog. Die Brigade beobachtete nicht nur, auf welche Tadschiken die Kriecher es abgesehen hatten, sie versuchte auch auf eigene Faust, Tadschiken in die Stadt zu locken. Um die Leute dann an die Kriecher auszuliefern oder um die Öffentliche Sicherheit bei der Suche zu behindern? überlegte Shan. Zumindest bei der Suche nach einem ganz bestimmten Tadschiken.
    Jakli ging zu einem Verkäufer, der seine Waren auf einem Teppich in einer Ecke des Marktplatzes feilbot, und kaufte zwei Flaschen Orangenlimonade. Dann ließen sie und Shan sich mit ihren Getränken vor einer Hauswand nieder und beobachteten die Kriecher, genau wie fast jeder andere im Dorf. Nach einer weiteren halben Stunde hatte man alle Wartenden abgefertigt, und Marco und Sophie wurden zu dem Tisch geführt. Die Dorfbewohner kamen langsam näher, als rechneten sie mit einem besonderen Schauspiel. Aber Marco blickte stur geradeaus und sprach leise und respektvoll. Er besaß einen gültigen Ausweis. Nach der Überprüfung der Papiere stellte der Offizier sich jedoch vor Sophie hin, so daß sein Gesicht kaum einen halben Meter von ihrer Nase entfernt war, und hielt ihr eine laute Strafpredigt darüber, wie ungehorsam sie war, daß Tiere im Dienste des Volkes dem Volk auch entsprechenden Respekt bezeugen sollten und daß sie die wertvolle Zeit des Büros für Öffentliche Sicherheit verschwendet hatte. Shan hatte einmal erlebt, daß ein wütender Angehöriger der Roten Garden eine tamzing -Sitzung mit einem Pferd abhielt, weil das langsame Zugtier und sein Karren ihn bei der Überquerung einer Brücke behindert hatten.
    Nachdem der Offizier seine Ansprache beendet hatte, legte Sophie den Kopf auf die Seite, als würde sie den Kriecher prüfend mustern, reckte ihre Nase noch ein Stück vor und stieß jählings ein Geräusch aus, das halb einem Wiehern, halb einem Schrei glich, wobei sie den Mann reichlich mit Speichel bespritzte.
    Alle lachten, nur Marco und der Offizier nicht. Der e/uosi wollte Sophie wegführen, aber der Kriecher zog seine Pistole und richtete sie auf ihren Kopf. Erschrocken sah Shan, daß Marco seine Hand langsam unter den Mantel schob. Die Menschen verstummten sofort.
    Als der Schuß dann aufpeitschte, zuckte Shan vor Entsetzen zusammen; schon viel zu oft war er Zeuge geworden, wie die Kriecher auf jemanden geschossen hatten - bei den öffentlichen Hinrichtungen in Peking und auch im Gulag, wo er dreimal mit angesehen hatte, daß Wachposten der Kriecher Mönche erschossen, die ruhig dasaßen und eigensinnig ihre Mantras aufsagten.
    Aber der Schuß kam von weiter hinten. Dort neben dem Bus stand einer der anderen Offiziere und reckte seine Waffe in die Luft. Der Kriecher bei Sophie verzog finster das Gesicht, ließ aber die Pistole sinken, und der Mann, der den Warnschuß abgegeben hatte, kam zu ihm. Seine Augen wirkten genauso leblos wie die seines Kameraden, nur sein Haar war grauer. Er sah Marco lange und durchdringend an, nahm dann mit feierlicher Geste den Stempel vom Tisch und drückte Sophie einen Kreis aus roten Sternen auf die Nase.
    Die Soldaten bestiegen ihre Transporter und

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