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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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später das nächste Dorf erreichten, sahen sie Marco und Sophie mitten auf der Straße stehen, umgeben von Soldaten der Öffentlichen Sicherheit.
    Jakli hielt hinter einem Gebäude. Sie stiegen aus und spähten vorsichtig um die Ecke. Das Dorf befand sich in der Gewalt der Kriecher. Sie hatten mitten auf dem Marktplatz einen Kontrollpunkt errichtet und überprüften die Papiere sämtlicher Einwohner sowie aller Durchreisenden, die auf der Fernstraße eintrafen. Eine Schlange von mehr als hundert Menschen wartete vor einem Tisch, an dem drei Offiziere sich die Ausweise vorlegen ließen und jedem für unverdächtig befundenen Bürger einen Stempel auf die Hand drückten. An der Tür eines grauen Busses mit vergitterten Fenstern standen zwei Soldaten mit automatischen Gewehren. Durch die Scheiben des Fahrzeugs starrte ein halbes Dutzend unglücklicher Mienen hinaus. Neben dem Bus stand ein grauer Mannschaftstransporter, und sechzig Meter dahinter saßen zwei Männer auf den Vordersitzen eines roten Geländewagens. Die Brigade beobachtete. Beobachtete nicht etwa die Menge, sondern die Kriecher.
    Hektisch suchte Jakli die Gesichter der Wartenden ab. Beunruhigt schaute sie über die Schulter zu Shan, suchte ein weiteres Mal und seufzte erleichtert auf, als eine junge Frau vorbeikam. Sie zog die Frau um die Ecke und redete leise und eindringlich auf sie ein. Dann nahm sie die Hand des Mädchens und musterte den Stempelabdruck der Kriecher. Ein Kreis aus fünf Sternen in roter Tinte. Sie ließ die Hand wieder los und fügte noch einige Worte hinzu. Die junge Frau ging eilig weg, und Jakli zerrte Shan ans Ende der Warteschlange.
    Sie fragte den Mann vor ihnen, was denn der eluosi mit dem schönen Kamel angestellt habe. Das seien Marco Myagov und sein silbernes Rennkamel, erwiderte der Mann bewundernd. Marco habe überhaupt nichts angestellt, sondern sich lediglich geweigert, in der Warteschlange aus dem Sattel zu steigen. Deshalb habe ein Offizier befohlen, er müsse warten, bis alle anderen fertig seien. Noch während der Mann sprach, schnaubte Sophie leise. Sie sah Jakli und Shan an und neigte den Kopf, als wolle sie etwas zu ihnen sagen. Marco folgte ihrem Blick, runzelte kurz die Stirn, als er die beiden erkannte, und schaute sofort wieder weg.
    Shan beobachtete die Offiziere am Tisch bei der Arbeit. Sie schauten erst in die Gesichter, dann auf die Papiere. Frauen und Kinder wurden nach einem kurzen Blick nickend durchgewinkt. Shan sah, daß auch ein Han-Chinese ebensoschnell passieren durfte. Ein alter Mann kam durch, ohne eines zweiten Blicks gewürdigt zu werden, dann noch einer. Die Kriecher suchten nach einer bestimmten Person. Nicht nach einem Han. Nach einem Mann, aber nach keinem alten Mann. Shans einzige Hoffnung bestand darin, daß sie den Gesuchten bald fanden, sonst würde auch er in dem Bus landen und sich zu den anderen Illegalen gesellen dürfen, die bei der Kontrolle ins Netz gegangen waren.
    Plötzlich kam vorn in der Reihe Unruhe auf. Einer der Offiziere erhob sich und brüllte einen Mann an, er solle die Mütze abnehmen. Er zerrte den Verdächtigen beiseite und befragte ihn, während die anderen beiden Offiziere sorgfältig die Papiere des Fremden prüften.
    »Wer ist das?« fragte Shan leise.
    Jakli sprach wieder den Mann vor ihr an. »Er weiß es nicht. Irgendein Tadschike. Das ist gut. Wir brauchen die Zeit.«
    Wofür? überlegte Shan. Für ein weiteres Wunder?
    Sie standen nun auf gleicher Höhe mit Marco. Er sang eines seiner turksprachigen Lieder und brachte damit viele der Umstehenden zum Lachen.
    Shan bat Jakli um eine Erklärung.
    Sie hörte kurz zu und errötete. »Es geht um Kamele. Um Kamele, die Liebe machen und dabei Probleme mit ihren Höckern haben.« Dann seufzte sie noch einmal erleichtert auf. Shan sah, daß ihr Blick auf einen Mann im Schatten einer Gasse gerichtet war, die drei Meter von Marco entfernt auf die Straße mündete. Marco hatte ihn ebenfalls bemerkt. Er zwinkerte Jakli zu, flüsterte Sophie dann etwas ins Ohr und ließ die Zügel los.
    Das silberne Kamel stieß schlagartig einen ohrenbetäubenden Schrei aus und schoß quer durch die Menge davon, so daß viele der Wartenden hastig zur Seite sprangen. Marco brüllte Sophie hinterher und rief dann, jemand möge sie wieder einfangen. Mehr als zwanzig Leute nahmen die Verfolgung auf, darunter auch der Mann aus der Gasse, der blindlings auf Shan und Jakli zurannte und sie dabei zu Boden stieß, während er lauthals nach dem

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