Das Auge von Tibet
mögen ihn.« Zu Beginn der Mahlzeit waren noch mehr Hunde aufgetaucht. Shan zählte insgesamt sieben und fragte sich, wie viele wohl noch dort im Dunkeln verborgen sein mochten. Falls es den Hirten nicht vergönnt war, eine Familie mit Kindern zu gründen, gründeten sie eine Familie mit Hunden.
Während Huf sein Essen hinunterschlang, bemerkte Shan die nervösen Blicke, die der Tadschike in Richtung Jakli warf. Die Frau verteilte den Rest des Tees, und als Shan sich fünf Minuten später vom aufgehenden Mond wieder den anderen zuwandte, stellte er fest, daß nur noch Jakli und Huf mit ihm am Feuer saßen.
»Dieser Ort hier ist ganz schön abgelegen«, stellte Shan fest.
»Sie haben ein Radio, um Musik zu hören«, sagte Huf. Er zuckte die Achseln. »Meistens funktioniert es nicht.«
Jakli stand auf und legte Feuerholz nach. Shan sah, daß Huf in diesem Moment alle Muskeln anspannte, als fürchte er, sie würde ihn mit dem Ast schlagen.
»Scheint lange her zu sein, daß wir in Karatschuk gewesen sind«, sagte Shan.
»Ja, scheint so«, stimmte Huf ihm seufzend zu und blickte dann auf. »Ich bin sofort hergekommen, genau wie Marco angeordnet hat«, versicherte er eilends.
»Wir sind nicht wegen Marco hier.«
Diese Bemerkung schien Huf zu verwirren. Stirnrunzelnd starrte er in die Flammen. Dann murmelte er eine einzelne Silbe, die Shan nicht verstand, und einer der Mastiffs kam und setzte sich neben ihn, ohne Shan und Jakli aus den Augen zu lassen.
»Das Leben in Xinjiang ist ziemlich schwer«, sagte Shan. »Viele Leute müssen gegen ihren eigenen Willen handeln. Falls wir es uns aussuchen könnten, würden wir niemals etwas tun, das anderen schadet.«
»Als ich noch jung war, hatte mein Vater eine Schafherde«, erzählte Huf mit nervöser hoher Stimme. »Aber die Behörden haben sie ihm weggenommen, weil angeblich niemand Privateigentum besitzen durfte. Heutzutage darf man Privateigentum besitzen, aber ich habe meine Schafe nicht. Jemand anders hat sie. Ich habe auf dem Markt nach ihnen gesucht, konnte sie jedoch nirgendwo finden.« Er sprach sehr langsam. Das war nicht mehr der unverschämte Mann, den Shan in Karatschuk kennengelernt hatte. »In der Stadt habe ich einen Chinesen danach gefragt. Er hat gelacht und gesagt, vermutlich habe man die Tiere nach Peking verfrachtet und sie dem Großen Vorsitzenden serviert.«
Sie hörten den Ruf einer Eule.
»Letztes Jahr ist meine Mutter gestorben, aber sie hat in Tadschikistan gelebt«, sagte Huf mürrisch. »Man wollte mir keine Papiere geben, damit ich sie beerdigen konnte.«
Papiere. Huf meinte Reisepapiere, um die Grenze passieren zu können. »Also sind Sie mit Marco geritten.«
»Mein Bruder ist geritten. Aber nicht mit Marco«, erwiderte Huf und warf Jakli einen kurzen Blick zu. »Mit Klein Marco. Ich habe angeboten, für seine Reise zu bezahlen, aber statt dessen hat Klein Marco ihm Geld gegeben, weil er so gut mit den Tieren umgehen konnte.«
»Nikki«, sagte Jakli leise und voller Gefühl. Sie lächelte Shan an.
»Richtig«, bestätigte Huf. »Nikki.« Er sah Jakli an und neigte den Kopf, als sei ihm etwas eingefallen. »Er hat meinen Bruder dafür bezahlt, an weiteren Karawanen teilzunehmen. Ich mag Nikki. Er lacht sehr viel.«
Jakli lächelte erneut und streichelte Hufs Hund den Kopf.
»Aber später hat Ihnen jemand deswegen Fragen gestellt«, sagte Shan. »Jemand in Uniform.« Falls Huf in Karatschuk Informationen über die Amerikaner gesammelt hatte, mußte Bao dahinterstecken.
»Nein, kein Uniformierter«, gab Huf hastig zurück, als sei dieser Unterschied wichtig für ihn. »Ich meine, zunächst nicht. Ich wäre nicht einverstanden gewesen, wenn ich schon an jenem ersten Tag gewußt hätte, um wen es sich handelte. Ich habe ihn für einen Kaufmann gehalten, der nach westlichen Gütern suchte. Ich war in Yutian auf dem Markt. Er wollte nur wissen, wie man rauskommt, wie ein paar seiner Freunde sicher über die Grenze gelangen könnten. Er hat mir Drinks spendiert. Wir sind zusammen über den Markt geschlendert. Als ich ein Paar neue Schuhe sah, die mir gefielen, hat er sie mir geschenkt. Er sagte, falls wir gute Freunde würden, könnte er mir vielleicht ein paar Schafe besorgen. Oder sogar eine Anstellung. Ich hatte noch nie einen chinesischen Freund. Ich dachte, es wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Ich schätze, man sollte einen haben, wenn man in dieser Welt erfolgreich sein möchte«, sagte er und sah Shan an, als erwarte er eine
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