Das Auge von Tibet
Bestätigung.
Shan erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen. Um ihn zu beeindrucken, hatte Huf mit chinesischen Freunden geprahlt.
»Und dann haben Sie festgestellt, daß er in Wirklichkeit ein Kriecher war«, wagte Shan eine Vermutung.
Huf nickte mit gehetztem Blick. »Ein Offizier. Aber das habe ich erst später erfahren, als er in Uniform zu einem Treffen an der Fernstraße erschien.«
»Bao Kangmei?« fragte Shan.
Huf hob überrascht den Kopf. »Nein, nicht dieser Mistkerl. Der andere. Der Dünne mit der schlechten Haut.«
Sui. Huf war von Sui angeworben worden.
Der Tadschike starrte wieder ins Feuer. »Ich hatte früher schon mal einen Kriecher getroffen. Nachdem Privateigentum gestattet war, besaß er eine Tankstelle. Er hat befohlen, daß alle Autos der Kriecher nur noch bei ihm tanken.«
»Dann aber wollte dieser Offizier etwas anderes von Ihnen«, sagte Shan. »Er wollte mehr über Lau erfahren. Und über Ausländer.«
Huf zuckte die Achseln. »Er sagte, er würde bald den Dienst quittieren und Geschäftsmann werden. Internationaler Geschäftsmann. Und dazu müßte er natürlich Ausländer kennenlernen. Vor allem Amerikaner. Er wollte tatsächlich Amerikaner treffen und sehen, was sie so machten. Einmal habe ich ihm aus Karatschuk eine leere amerikanische Limonadendose mitgebracht, und er hat mir dafür mehr Geld bezahlt, als ich als Schafhirte in einem Monat verdienen würde. Für eine leere Dose«, wiederholte der Tadschike ungläubig.
Die Schafe schliefen inzwischen alle rund um das Lager, ein weicher grauer Teppich im Mondschein. Dahinter saß einer der Mastiffs aufrecht auf einem Felsen und schaute in die Finsternis.
»Also haben Sie ihm noch mehr Dinge aus dem Besitz der Amerikaner gebracht.«
»Nicht viele. Weil Sie mich gestört haben, kam ich nicht mehr dazu.«
»Aber dann haben Sie Karatschuk am selben Abend verlassen. Sie wollten ohnehin aufbrechen, als Marco Sie hergeschickt hat. Sie wollten sich mit Ihren Freunden von den Kriechern treffen«, mutmaßte Shan.
Huf nickte. »Es waren zwei von ihnen dort. Der Kriecher und noch einer, der eine dunkle Brille getragen hat, obwohl längst keine Sonne mehr schien. Sie saßen in einem roten Auto, haben Bier getrunken und auf mich gewartet. Der mit der Brille hat mich ein wenig mit dem Auto herumgefahren, während der Kriecher auf einem Felsen sitzen blieb und weitertrank. Unterwegs sagte der Mann, er könne mir helfen. Er sagte, er wäre ab jetzt mein Freund, und dann hat er mir Geld gegeben. Er fragte, was ich mir am meisten wünschen würde. Ich sagte, Schafe, und er sagte, kein Problem.« Huf sah Shan an. »Falls er mir ein paar Schafe besorgt, können mein Bruder und ich im Frühjahr ein eigenes Lager aufschlagen. Mein Bruder muß meinen neuen Freund unbedingt noch kennenlernen. Arbeite nicht für die Kriecher, habe ich zu ihm gesagt. Die zahlen nicht so gut.«
Es schien plötzlich sehr viel kälter geworden zu sein. Huf arbeitete für die Brigade. Shan rückte dichter ans Feuer. »An dem Tag, an dem Sie aufgebrochen sind, haben Sie demnach alle beide gesehen. Ihr Freund saß am Steuer des roten Wagens. In der Nähe der Fernstraße. Spät am Abend.«
»Mein neuer Freund sagte, er habe nicht mehr viel Zeit. Aber ich solle mir vorher noch etwas anschauen. Er sagte, das geschähe mit Leuten, die versuchen, sich in seine Geschäfte einzumischen. Der Kriecher mit der schlechten Haut stand einfach nur lächelnd da, als der andere die Waffe auf ihn richtete. So als würde er das alles für einen Scherz halten. Aber mein Freund hat einfach den Abzug betätigt. Mitten ins Herz, zweimal. Ich bin weggerannt und hierhergekommen, so wie Marco es mir aufgetragen hat.«
Shan sah in die Glut. Huf war Augenzeuge gewesen, er hatte mit angesehen, wie Ko Yonghong den Mann mit dem pockennarbigen Gesicht erschoß, Leutnant Sui. Dann war Huf verschwunden und hatte Ko nervös gemacht. Nun suchte Ko nach Huf. Aber Bao ebenfalls. Mit dem Tadschiken auf seiner Seite konnte Bao den Direktor vernichten. Aber wie hatte Bao das alles herausgefunden?
Plötzlich sprang der Hund auf und bellte in die Dunkelheit nördlich des Lagers. Jakli seufzte und streckte den Arm aus. Am fernen Himmel erhellten zwei leuchtendweiße Lichtstreifen den Horizont.
»Leuchtkugeln«, murmelte Huf. »Die sehen wir in letzter Zeit ziemlich oft.«
»Leuchtkugeln?« fragte Shan. »Von wem?«
»Von den Kriechern. Sie gehen manchmal gern nachts auf die Suche, um die Leute zu
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