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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sie bereits, was Shan sich erst danach zusammenreimte. In gewisser Weise hatte sogar er selbst ihr die schreckliche Wahrheit vor Augen geführt, und zwar durch den Besuch im Lager des Tadschiken. Sie hatte nichts dazu gesagt, sondern war im Anschluß nur an ihren ganz persönlichen Ort der Trauer geflohen, aber Huf hatte Shan gegenüber eingeräumt, daß sein Bruder, der mit Nikki geritten war, gleichzeitig für die Kriecher arbeitete.
    »Bao hat ihn ermordet. Ich war mir völlig sicher, Nikki sei Amerikaner. Blondes Haar und blaue Augen. Ich habe nichts begriffen.« Shan schwieg einen Moment. »Die Kriecher hatten das Netz immer enger gezogen. Bao war den Amerikanern auf der Spur. Er wollte sie unbedingt erwischen, denn das würde eine sichere Beförderung bedeuten. Sein Plan sah vor, der Karawane eine Falle zu stellen. Er hat Nikki gefangengenommen, als der mit dem weißen Pferd und dem silbernen Zaumzeug zurückkam. Bao mußte dafür sorgen, daß nur eine Karawane unterwegs sein würde, nämlich Ihre, die mit den subversiven Elementen, damit er sich an die Verfolgung machen und seine Helikopter auf sie ansetzen konnte. Er hat einen von Nikkis Männern, den Tadschiken, bestochen, das Zaumzeug in die Stadt zu bringen, damit Sie wegen Nikkis Abwesenheit keinen Verdacht schöpfen würden.«
    »Nein! Verflucht noch mal, nein!« rief Marco. Von seiner Wut war nichts mehr übrig. »Nikki wird bald hier sein.« Nun klang er wieder ganz klein und schwach. »Ich liebe meinen Jungen.«
    »Viel zu viele Eltern haben in letzter Zeit ihre Jungen verloren«, sagte Shan stockend. Er holte den Stahlring aus der Tasche, den er seit jener Nacht im Lager Volksruhm bei sich trug, und legte ihn neben Marco auf den Tisch. Dann verließ er den Raum.
    Er stieg den Turm hinauf in die Nacht. Fünf Minuten später drang ein Laut unglaublicher Qual an seine Ohren. Es war Verwirrung und Verzweiflung, alles in einem langgezogenen unmenschlichen Schrei Es war ein Laut völliger Einsamkeit.
    Shan versuchte, durch den feuchten Schleier vor seinen Augen die Sterne zu erkennen. Das furchtbare Geräusch schien in seinem Kopf widerzuhallen und ließ ihn erschaudern. Einen Moment lang sehnte er sich danach, ebenso schreien zu können, um dem Leid in seinem eigenen Herzen Luft zu verschaffen.
    Er blieb bis nach Mitternacht oben auf dem Turm und bemühte sich, weder etwas zu denken noch zu fühlen. In den frühen Morgenstunden fand er Marco dann in Nikkis Zimmer wieder. Der große Mann saß in einer Ecke und sah aus, als hätte er die ganze Nacht gekämpft, als hätte man ihn zum erstenmal in seinem Leben verprügelt und bezwungen. Er ließ sich von Shan zu Bett helfen und wirkte dabei so schwach wie eine alte Frau.
    Die anderen waren wach und saßen neben dem Ofen auf dem Küchenboden. In ihrer Mitte lag ein Haufen schmutziger Steine, und neben Gendun stand ein Topf Wasser, aber sie schienen ihre Übung schon vor langer Zeit abgebrochen zu haben. Sie hatten alles mit angehört und verstanden. Gendun und Lokesh beteten. Jowa saß mit bestürzter Miene da und starrte auf seine leeren Hände.
    Fat Mao war wütend. »Diese widerliche Wolke wird von Tag zu Tag größer«, sagte der Uigure unvermittelt zu Shan. »Man kann sie nicht aufhalten. Und was unternimmst du deswegen? Du machst es nur noch schlimmer.«
    »Wir sind hergekommen, um dem Yakde Lama zu helfen«, sagte Shan ruhig und sah dabei die Steine an.
    »Zum Teufel mit dem Yakde Lama!« schrie Fat Mao. »Ein kleiner Junge, ist das alles, worum du dich sorgst? Nikki war mein Freund. Was ist mit Jakli und den Clans, die aufgelöst werden? Du großer Ermittler, du tust überhaupt nichts! Du hast den Yakde Lama nicht gerettet, er ist tot. Der Zauberer aus Lhadrung, der herkommt und alles aufklärt. Vier tote Kinder. Du hast es nicht verhindert. Du steckst bloß deine Nase überall hinein. Und anzubieten hast du nur schlechte Neuigkeiten.« Der Uigure klang, als würde er kurz vor einem Tobsuchtsanfall stehen. »Du kennst keine Logik! Du folgst keinen Grundsätzen!« Fat Mao starrte ihn wütend an und beugte sich vor, als wolle er sich auf den gegenüber sitzenden Shan stürzen. Dann fielen ihm offenbar die anderen wieder ein, und er hielt inne.
    Shan erwiderte Fat Maos wütenden Blick für einen Moment und sah dann ebenfalls auf seine Hände, als die große Woge der Traurigkeit wieder über ihm zusammenschlug.
    Schweigend saßen sie dort in dem Haus auf dem abgelegenen Berg, während der Wind um die

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