Das Auge von Tibet
Das Fenster öffnete sich auf den zentralen Bereich des Anwesens, einen Hof, der auf drei Seiten von Gebäuden eingerahmt wurde. Es fand gerade ein Baseballspiel statt. Man hatte die Fahrzeuge zur Seite gefahren, und auf ihren Motorhauben und Dächern saßen mindestens zwei Dutzend Zuschauer, die das Spektakel verfolgten. Ko war ebenfalls dort und rannte aufgeregt umher. Er wies die Spieler an, wie sie sich aufstellen oder den hölzernen Schläger halten sollten.
Als Shan sich umwandte, um seine Suche fortzusetzen, traf der Batter den Ball, und das Publikum jubelte erneut. Der unternehmungslustige Ko schien sich nicht sonderlich um die Einzelheiten seiner Unternehmungen zu kümmern. Die zwei Schubladen des schmalen Tisches unterhalb des Fensters enthielten Büroklammern und Bleistifte. Auf einigen Regalen standen diverse Erinnerungsstücke sowie Bücher zum Thema Management, darunter einige in englischer Sprache. Erfolg trotz Chaos lautete einer der Titel. Bei den Andenken handelte es sich überwiegend um vertraute Politdevotionalien. Eine Büste Mao Tsetungs. Ein Stück Holz, in das man die Worte Fahre unbeirrt fort eingraviert hatte, die Kurzform des beliebten Sinnspruchs eines früheren Jahrzehnts. Zwei Tischfeuerzeuge in Haltern aus poliertem Stein, deren Messingplaketten an Parteikonferenzen gemahnten. Mehrere Etuis mit Schreibgeräten. Und eine Schnur mit schmutzigen Plastikperlen. Shan nahm sie in die Hand. Eine mala . Ihm fiel ein, daß der Dämon nach dem Mord an Alta dessen Gebetskette mitgenommen hatte. Shan ließ die Perlen in seine Tasche gleiten.
Es fanden sich weder Listen mit Jungennamen und dahinter verzeichneten Kopfgeldern noch Aufzeichnungen über Lau. An der Wand hing ein Foto, auf dem Ko unter einem Banner des Programms zur Beseitigung der Armut stand und einem nahezu kahlköpfigen Mann die Hand schüttelte. Shan nahm den Mann genauer in Augenschein. An seinem Anzugjackett steckte ein großes Abzeichen in Form der chinesischen Flagge mit einem Kampfpanzer darunter. Ein Souvenir für ehemalige Soldaten.
Shan ging zurück zum Tisch der Sekretärin. Darauf lag ein großer, handschriftlich an Ko adressierter Umschlag. Absender war die Brigadezentrale in Urumchi. Unter Kos Namen stand eine Notiz: Ich wünschte, alle meine Manager würden das neue chinesische Wirtschaftssystem so gut verstehen wie Sie, Genosse, Dies hier wird unser Modellprojekt sein, um allgemein zu verdeutlichen, was eine Marktwirtschaft chinesischer Prägung wirklich ist. Unterschrieben war das Schreiben mit Rongqi.
Im Innern des Umschlags fand Shan ein Hochglanzetikett, auf dem einige Berge und der Potala in Lhasa abgebildet waren, der traditionelle Palast des Dalai Lama, den China in einen Wallfahrtsort für Touristen verwandelt hatte. Über das Bild zog sich der Schriftzug Orakel, versehen mit dem Symbol eines eingetragenen Warenzeichens. Frisch aus der heiligen Quelle, stand darunter, und dann, ganz am unteren Rand, 300ml. An den Seiten des Etiketts waren weitere Werbeversprechen aufgedruckt. Heilend. Belebend. Für wohltuenden Schlaf. Genießen Sie den Zauber Tibets.
Shan war zunächst völlig verwirrt, aber dann las er den Aufdruck ein weiteres Mal. Der Orakelsee beim Kloster Rabennest. Das Programm zur Beseitigung der Armut. Rongqis Haß auf Tibeter. Die Eingliederung der gequälten Minderheiten in den Wirtschaftsprozeß. Die Suche nach einem eigenen Yakde Lama. Ko und sein General hatten das perfekte Projekt gefunden. Ein Musterbeispiel für ihr neues System. Das heilige Wasser von Rabennest sollte an die neureichen Chinesen der östlichen Städte verkauft werden. Rongqi stand dem wirtschaftlichen Fortschritt mehr als aufgeschlossen gegenüber, aber er verlor seine früheren Absichten nicht aus dem Blick. Er würde sich auf seine Weise an dem Yakde Lama rächen, indem er hohe Belohnungen für den Tod des Jungen und für den Jadekorb zahlte, um dann einen eigenen Yakde Lama zu proklamieren. Und zum Abschluß würde er den überlebenden Anhängern des Lama seinen Sieg unter die Nase reiben.
Mit zitternder Hand nahm Shan den Etikettenentwurf und widmete sich den Karteikarten, die darunter lagen. Vorschläge für die Werbekampagne lautete die ehrgeizige Überschrift. Abbildung: Hübsche Frau in aufreizendem Nachthemd, stand dort. Bildunterschrift: »Psst! Ich habe hier ein tibetisches Sexgeheimnis für Sie!« Die nächste Karte besagte: Abbildung: Breit grinsender Mönch, der eine Flasche hochhält.
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