Das Auge von Tibet
ersten davon, sah ihn an und ließ ihn in ihrem Kreis herumgehen. Es war ein kleines, häßliches Ding, an dem Erde und etwas anderes klebten, das durchaus Kameldung sein konnte. Jowa warf einen unschlüssigen Blick darauf, nahm den Stein jedoch von Shan entgegen, betrachtete ihn kurz und gab ihn Gendun zurück. Der Lama hielt den Stein in einer Hand, schöpfte mit der anderen etwas Wasser und wusch den Schmutz ab. Der Stein begann zu schimmern; man erkannte seine verwaschene orangebraune Färbung und einige winzige grüne Einsprengsel. Dann reichte Gendun ihn ein weiteres Mal herum, und Lokesh und Shan musterten eindringlich seine komplexe Schönheit. Jowa hingegen gab ihn schnell an Gendun weiter, doch der Lama reichte ihn sogleich wieder an den purba zurück. Jowa begutachtete den Stein einige Sekunden, drehte ihn um und wollte ihn abermals weitergeben, doch Gendun weigerte sich erneut, so daß Jowa erst verunsichert wirkte, dann aber den Stein konzentrierter in Augenschein nahm.
Im Straflager hatte Shan diese Übung oftmals verfolgt. Die Kruste des Lebens, hatte einer der inhaftierten Mönche es genannt. In ihren kurzen Mittagspausen saßen sie manchmal einfach nur da und wuschen Steine ab, wozu sie mitunter ihre einzige tägliche Wasserration benutzten. Sie entfernten die Schicht, die das Dasein zwangsläufig mit sich brachte, um zur wahren Natur des Steins vorzudringen.
Beim Abendessen wurde kaum ein Wort gesprochen. Nachdem sie ihren Gemüseeintopf verzehrt hatten, gingen Jowa und Fat Mao zur Vordertür hinaus, um ein leises, dringlich wirkendes Gespräch zu führen. Die kalte, klare Nacht brach schnell herein. Lokesh und Gendun blieben in der Küche am Boden sitzen und widmeten sich ihren Gebetsketten.
Shan lehnte sich draußen an einen Baum und beobachtete eine Weile die Sterne. Er hielt das Blatt mit den Abkürzungen in der Hand und starrte es an, obwohl er im Dunkeln nichts darauf erkennen konnte.
Als er wieder hineinging, war es still im Haus. Er stieg auf den Turm. Dort fand er Marco, versunken in düstere Gedanken.
Shan fing ein belangloses Gespräch an, erwähnte den Nachthimmel und den Ruf eines Tiers irgendwo in der Ferne. Marco antwortete ihm leise und wortkarg.
»Sie sind hohl und leer«, sagte der eluosi plötzlich, »diese Mistkerle, die Jakli ins Gefängnis werfen wollen. Die Welt dieser Leute ist eine grausamere Wüste als die Takla Makan. Und Sie.«, wandte er sich in vorwurfsvollem Tonfall an Shan, »Sie glauben, Sie seien wie die alten Mönche, die früher im Sandberg gelebt haben und Wasser in die Wüste bringen wollten. Aber was auch immer in den Boden einer Welt gepflanzt wird, in der solche Männer leben, verdorrt einfach und stirbt.«
»Also erhalten wir die Saat am Leben«, sagte Shan nach einem Moment. »Manchmal, wenn eine Dürre jahrelang andauert, kann man sich nur noch um den Schutz des Saatguts kümmern. Und genau das tut Jakli. Sie behütet die Saat. Sie wird überleben. Und die Dürre geht irgendwann vorbei.«
»Soll das heißen, es wird nicht ewig diese Regierung geben?«
Shan erwiderte nichts.
»Mein Sohn liest sehr viel. In einem seiner Bücher stand, daß eine vom Geist der Revolution beseelte Gruppe westlicher Schriftsteller behauptet hat, die beste Regierungsform sei die Abwesenheit jeglicher Regierung. Er mußte lachen, als er mir davon erzählt hat. Dann sagte er, wir hätten hier oben auf unserem Berg gewissermaßen das höchste Staatsideal verwirklicht.«
Marco verstummte und fuhr erst nach einer geraumen Weile fort. »Warum versuchen Sie es nicht selbst, Johnny? Wir können beide hier abwarten, während Nikki in Amerika die Universität besucht. Er wird gehen müssen. Jakli wird wollen, daß er geht und alles für sie beide vorbereitet, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Er wird uns ein Teleskop schicken. Wir werden hier oben stehen und die Sterne betrachten.«
»Nein«, sagte Shan. Seine Stimme erstarb fast vor Schmerz.
»Es liegt ganz bei Ihnen.«
»Nein. Ich will sagen, er wird kein Teleskop schicken.« Shan konnte im Mondlicht erkennen, wie sich Furcht in die Augen des großen Mannes schlich.
Marco ging mit einem verächtlichen Schnauben darüber hinweg. »Sie werden schon sehen. Ich werde einen Stern nach ihm benennen. Er spricht englisch wie der Präsident höchstpersönlich.«
Aber Shan sah es bereits. Er sah mit qualvoller Klarheit, welch ungeheure Angst Marco empfand. Es ging nicht um die riskanten Karawanen und die Hetzjagd der Patrouillen.
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