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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ihren Verstecken. Am nördlichen Ende des Tals, unterhalb des Sees, erspähte Shan einen einzelnen Beobachter, der auf einem silbernen Kamel saß.
    »Niya! Niya! Niya Gazuli!« rief die Menge, bis alle Kasachen in den Chor einfielen und der Sprechgesang durch das ganze Tal hallte.
    Bao betrachtete wütend die Menge und warf einen haßerfüllten Blick auf das weiße Pferd. Der Transporter mit Jakli fuhr los. Dann stieg Bao in den schwarzen Geländewagen, der sofort dem Lastwagen folgte.
    »Niya! Niya!« Die Reiter stellten sich in den Steigbügeln auf und reckten die Fäuste empor. Ihre herausfordernden Schreie begleiteten die Kriecher auf dem Weg durch das gesamte Tal.
    Dann, etwa hundert Meter nach den letzten Kasachen, hielt der Geländewagen an. Der Major stieg eilig aus, erklomm mit einem Jagdgewehr die Motorhaube des Fahrzeugs, stützte sich ab und visierte den hohen Felsvorsprung an. Er gab zwei Schüsse ab, und die Menge verstummte. Das majestätische weiße Pferd strauchelte. Dann brach es zusammen, stürzte über die Kante und rollte den Hang hinunter.
    Major Bao rief etwas, und Jaklis Gesicht erschien auf der Ladefläche des Lastwagens. Einer der Kriecher hatte sie grob an den Haaren gepackt und zwang sie nun, mit anzusehen, wie das tote Pferd zwischen die Felsen rutschte. Dann stieg Bao wieder ein, und die Kriecher fuhren davon. Shan sank auf die Knie und krümmte sich, während die kluge, fröhliche Jakli ins Gulag verschwand.

Kapitel 20
    Marco kehrte nicht ins Lager zurück, sondern verließ mit Sophie das Tal. Wenig später rief jemand etwas und zeigte auf einen kleinen Punkt, der sich oben auf dem hohen Felsgrat nach Westen bewegte. Marco ritt nach Hause.
    Gendun und Lokesh folgten Jowa wortlos zum Lager des Roten Steins, während Shan zunächst noch der Staubwolke der beiden Fahrzeuge hinterherstarrte. Zehn Minuten darauf kamen die drei Tibeter mit Pferden wieder zum Vorschein. Shan sah, aber hörte nicht, wie Malik dem purba den Weg beschrieb und dabei auf den Kamm zeigte, den Marco überquert hatte. In letzter Minute, während Shan und seine Freunde sich bereits dem See näherten, galoppierte ein fünfter Reiter heran und gesellte sich zu ihnen. Fat Mao.
    Als sie das letzte Tal erreichten, übernahm Shan die Führung. Sie bogen auf den steilen Serpentinenpfad ein, konnten Marco jedoch nirgendwo entdecken. Auch nachdem sie das Plateau erreicht hatten, stand dort nur Sophie und begrüßte sie mit einem leisen Schnauben. Während Shan seinem Pferd den Sattel abnahm, wies Jowa auf den Wasserfall. Dort saß Marco jenseits der Weide am Ufer des kleinen Teichs.
    Lokesh nahm Genduns Arm. »Wir kümmern uns um das Essen«, verkündete er, und die beiden Männer verschwanden in dem Gebäude.
    Marco bemerkte die Neuankömmlinge schließlich und machte sich mit schweren Schritten zu ihnen auf den Weg. Er wirkte wie ein alter müder Affe. »Heute sollten eigentlich Pferderennen stattfinden«, sagte der eluosi zu Shan. »Das hätte Ihnen bestimmt gefallen.«
    »Wir mußten herkommen«, sagte Shan. »Der Plan darf nicht ins Stocken geraten.« Marco schaute matt von ihm zu Fat Mao, als hoffe er auf eine Erklärung.
    »Die Amerikaner müssen von hier verschwinden«, sagte Fat Mao. »Nikki kann immer noch fortgehen. Jakli braucht etwas, das ihr Hoffnung gibt. Wir werden feststellen, in welches Gefängnis man sie bringt. Dann können wir sie mit Nachrichten versorgen. Das wird sie am Leben erhalten.«
    Marco blieb lange stumm. »Also gut«, sagte er dann. »Am Tag nach Vollmond geht es los. Es bleibt noch genug Zeit.«
    Shan folgte Marco ins Haus und sah ihn durch den hinteren Flur in Nikkis Zimmer gehen. Er nahm einen Umschlag aus der Tasche und legte ihn neben den Samowar. Jakli hatte ihn weggeworfen, als die Kriecher kamen. Es mußte sich um den Brief von Nikki handeln, den sie immer dann las, wenn sie sich einsam fühlte, und der auf keinen Fall den Kriechern in die Hände fallen sollte. Er hörte, daß Gendun den purba bat, er möge ihn begleiten, und dann gingen die beiden Tibeter nach draußen. Von der Tür aus beobachtete Shan, daß sie über die Wiese schlenderten, mehrmals innehielten und etwas vom Boden aufhoben. Dann begriff er, was Gendun vorhatte. Er ging zum Teich und füllte einen Tontopf mit Wasser.
    Im Schein der letzten Sonnenstrahlen setzte Shan sich mit den drei Tibetern vor dem Haus nieder. Jowa und der Lama hatten Steine gesammelt und zu einem Haufen aufgeschichtet, und nun nahm Gendun den

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