Das Auge von Tibet
gesehen, als ich damit ankam? Es war wie früher.« Sein Mund verzog sich, als wolle er lächeln, aber letztendlich wurde daraus eine schmerzverzerrte Grimasse. »Erst gibt er es mir, dann erschießt er es«, sagte er bekümmert und schaute zu Boden.
»Ich glaube nicht, daß Sie den Kriechern etwas verraten haben«, sagte Shan. »Weil Sie nämlich überhaupt nichts wußten. Ich vermute, Sie haben sich einverstanden erklärt, etwas Bestimmtes für Bao zu tun.«
»Eine Kleinigkeit. Ich sollte die Anklägerin belügen. Bao tat so, als wäre es eine Art Scherz.« Erneut versuchte Wangtu zu lächeln.
»Was genau solltest du ihr erzählen?« fragte Fat Mao nach.
Wangtus Blick blieb auf Shan gerichtet. »Es ging um die Jungen. Ich sollte dafür sorgen, daß Xu heute abend die Nachricht erhält, es sei hoch in den Bergen ein weiterer Junge ermordet worden.«
»Welcher Junge?« warf Jowa erschrocken ein.
»Irgendeiner. Kein wirklicher Mord. Ich sollte es bloß behaupten, damit sie ins Gebirge aufbricht.«
»Will man Xu in einen Hinterhalt locken?« fragte Fat Mao.
»Sollen Sie Xu einen bestimmten Ort nennen?« fügte Shan hinzu.
»Nein. Irgendeine Stelle im Kunlun, an einer der schlechten Straßen, wo man Schrittempo fahren muß. Mindestens zwei oder drei Stunden von hier entfernt. Alles weitere war Bao egal.«
»Demnach ist es kein Hinterhalt, sondern ein Ablenkungsmanöver«, folgerte Jowa.
»Und zwar, weil Bao nicht will, daß sie plötzlich irgendwo in der Nähe des Steinsees auftaucht«, sagte Shan erschaudernd.
Im Vergleich zu den anderen Gebäuden Yutians wirkte das im Südteil der Stadt gelegene Anwesen der Brigade wie ein Privatklub. Seine weißen, mit Stuck verzierten Mauern waren frisch gestrichen, und im vorderen Innenhof fand sich eine eigentlich nur in westlichen Ländern übliche Besonderheit: ein Rasen. Überall standen rote Fahrzeuge geparkt - Limousinen, Geländewagen und schwere Laster, allesamt versehen mit dem goldenen Emblem des Wohlstands.
Fat Mao hatte sich geweigert, sie zu begleiten oder einen der anderen Maos für ein dermaßen gewagtes Unternehmen abzustellen. »Geh nach Hause«, hatte er mit angespannter Stimme zu Shan gesagt. »Du hast deine alten Männer gefunden. Ihr seid alle noch am Leben. Damit ist es euch weitaus besser ergangen als uns. Haut ab, bevor die Kriecher aufs neue zuschlagen.« Fat Maos Wut hing nicht nur mit Jaklis Verhaftung zusammen, erkannte Shan, während Jowa und Lokesh sich ihm anschlossen. Der Uigure fühlte sich gedemütigt.
Das Gelände war wie entvölkert. Shan ging an dem leeren Pförtnerhaus vorbei. Das alles roch nach einer Falle, aber er konnte nicht anders. Er wandte sich schnell zu Lokesh um uid wies ihn an, mit Jowa auf der anderen Straßenseite zu warten. Der alte Tibeter nickte zustimmend, aber als Shan die Hand auf einen der beiden Türflügel des Bürogebäudes legte, griff jemand an ihm vorbei und stieß die Tür für ihn auf. Lokesh stand neben ihm.
Irgendwo in der Nähe ertönten unvermittelt Geräusche. Jubel. Beifall. Es klang nach einer ganzen Menschenmenge, aber immer noch war niemand zu sehen. Sie wagten sich in die Eingangshalle vor und entdeckten eine ältere Chinesin, die kerzengerade hinter einem Empfangstisch saß. Als sie an ihr vorbeigingen, lächelte sie und nickte mehrfach. Shan fiel auf, daß sie blaue Arbeitskleidung trug. Hinter ihr standen ein Schrubber und ein Eimer Wasser.
Kos Büro war nicht zu verfehlen, angefangen beim Eingang, der grellen Imitation einer westlichen Terrassentür, mit einem roten Plastikgitter und darin eingesetzten Scheiben aus durchsichtigem Kunststoff. Kurz dahinter lag auf einem der Stühle ein Stapel amerikanischer Zeitschriften, über dem das Poster einer nächtlichen Skyline hing, versehen mit der Überschrift New York, New York in lateinischen Buchstaben. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Banner, dessen Aufschrift Shan im ersten Moment für einen politischen Slogan hielt, bis er genauer hinsah und es zur Sicherheit zweimal las. Werdet reich mit der Brigade.
Das Büro war leer. Shan eilte vorbei an dem Arbeitsplatz einer Sekretärin in einen großen Raum, in dem sich ein schimmernder Schreibtisch aus verchromtem Metall und Glas befand. Auf der Tischplatte standen lediglich ein rotes Telefon und das Foto eines roten Sportwagens.
Lokesh trat mitten vor das große Fenster hinter dem Schreibtisch und lachte leise. Shan zog ihn sofort zur Seite und spähte dann vorsichtig nach draußen.
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