Das Auge von Tibet
Mit diesen Gegebenheiten lebte der eluosi schon seit vielen Jahren. Es war etwas, das dieser große, überschwengliche Geist noch nie verspürt hatte. Wie ein Wurm mit unersättlichem Appetit hatte es an ihm genagt und sich fast bis zu seiner Seele vorgearbeitet. Während Shan noch um Worte rang, floh Marco die Treppe hinunter.
Shan fand ihn in Nikkis Zimmer. »Was für eine Unordnung«, sagte Marco und rückte fahrig einige Bücher in dem Regal zurecht. »Er mag es aufgeräumt. Von mir hat er das nicht. Muß wohl seine Mutter gewesen sein.« Seine Stimme klang hohl und mutlos.
In diesem Moment hätte Shan lieber als Lebenslänglicher in der finstersten Zelle eines Zuchthauses gesteckt, als hier zu stehen und auszusprechen, was sich nicht länger verschweigen ließ.
»Ich weiß, wo Nikki ist.«
Marco hielt kurz inne. Er sah Shan nicht an. »Er ist mit einer Karawane unterwegs und bald wieder hier. Sie haben das silberne Zaumzeug doch selbst gesehen.«
»Er wurde von den Kriechern gefangengenommen.«
»Nein!« Marco hob einen Stapel Bücher vom Boden auf. Sie fielen ihm aus der Hand. Er kniete sich hin, um sie wieder aufzusammeln.
»Ich habe Nikki gesehen.«
Marco schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen und ließ das Buch in seiner Hand sinken, als wäre es plötzlich viel zu schwer geworden. »Das haben Sie bisher mit keinem Wort erwähnt.«
»Es war mir bis gestern nicht bewußt. Dann fand beim nadam dieses Baseballspiel statt, und seitdem wurde mir langsam alles klar. Ich bin Nikki begegnet. Ich habe ihn im Lager Volksruhm Kohlen schaufeln gesehen.«
»Das glaube ich nicht.«, sagte Marco und zitterte dabei fast vor Angst. Shan begriff, daß der eluosi es tief in seinem Innern längst geahnt hatte.
»Sie haben ihn gefangengenommen und ins Lager Volksruhm gesteckt. Dort im Lager war ein weißes Pferd. Nikki hatte es für Jakli aus Ladakh mitgebracht. Es war dasselbe Tier, das Wangtu ihr gestern geschenkt hat.«
Marcos Gesicht verzog sich vor Höllenqualen.
»Später habe ich ihn noch einmal gesehen«, sagte Shan sehr leise. »An seiner rechten Schulter war eine Narbe.«
»Von der Gewehrkugel eines Grenzsoldaten, während seiner ersten Karawane«, flüsterte Marco. »Ich habe ihm gesagt, so nah an der Grenze dürfe man nicht bei Tag unterwegs sein.«
»Als ich ihn dieses zweite Mal sah.« Shan biß so fest die Zähne zusammen, daß es weh tat. »Er hatte einen Zettel mit lateinischen Buchstaben in der Tasche. Ich dachte, es sei ein Code. Ich habe ihn für einen Amerikaner gehalten, weil er mich in englisch angesprochen hat. Aber auf dem Stück Papier ging es lediglich um Baseball. First Base, second Base, third Base, alles abgekürzt, damit er sich die Positionen merken konnte.« Das Spiel beim nadam hatte letztlich den Ausschlag gegeben. Shan war die ganze Zeit einem Irrtum aufgesessen - es handelte sich nicht um fünf Zeilen, sondern um zwei nebeneinanderstehende Spalten mit Abkürzungen aus einem beziehungsweise zwei Buchstaben. Shan holte das Blatt aus der Tasche und faltete es auseinander. Die erste Spalte enthielt die Spielpositionen FB, SB, SS und TB: First Baseman, Second Baseman, Shortstop und Third Baseman. In der zweiten Spalte standen P, RF, CF, LF und C: Pitcher, Rightfielder, Centerfielder, Leftfielder und Catcher.
»Er hat geglaubt, man wird ihn beim Einbürgerungstest in Amerika über Baseball befragen«, flüsterte Marco. »Er hat versucht, es so oft wie möglich zu spielen, damit er später genau Bescheid weiß.«
»Das zweite Mal war in jener Nacht im Lager Volksruhm«, fuhr Shan fort. »Ich habe sein Haar abgewischt. Es war schwarze Schuhcreme darauf. Es war blond. An seiner Hüfte habe ich ein Muttermal gesehen. Er war tot, Marco.« Er ließ den Zettel neben den eluosi fallen.
»Nein«, widersprach Marco mit plötzlicher Wut. »Das kann nicht sein. Er kommt zurück. Er wird nach Amerika gehen und mit Jakli eine Familie gründen.«
Jakli hatte es ebenfalls gewußt, davon war Shan überzeugt. Ihre Abschiedsworte hatten ihn während des langen Ritts zu Marcos Haus nicht mehr losgelassen. Nikki und ich, das war wie ein Traum, hatte sie gesagt und dann hinzugefügt: Es wird bis irgendwann in der Zukunft warten müssen. Das klang, als würde sie ein anderes Leben, eine andere Inkarnation meinen. Und schließlich ihr Blick, als sie losgegangen war, um sich Bao zu ergeben. Es hatte keine Angst darin gelegen - und auch kein Haß, sondern nur noch eine große Leere, denn im Herzen spürte
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