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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ein. Hatte Loshi sich die Mühe gemacht, zunächst Ko zu verständigen, oder hatte sie gleich bei Bao angerufen? überlegte Shan. Mao der Ochse befand sich inzwischen hinter dem Amtsgebäude und behielt die Limousine der Anklägerin im Blick. Mao die Schwalbe, die schüchterne Uigurin, stand einen Block entfernt in einer Gasse, von wo aus sie Mao den Ochsen beobachten konnte. Jowa saß auf einer Bank am Straßenrand, genau gegenüber von Shan, und ließ wiederum Mao die Schwalbe nicht aus den Augen. Das Signal kam schnell. Jowa ließ die Zeitung sinken, in der er gelesen hatte, und hob beide Arme, als würde er sich strecken. Shan stand auf, ging langsam davon, bis er den großen Wagen aus der Seitenstraße herannahen sah, und stellte sich der Limousine in den Weg.
    Keiner sprach ein Wort, als er einstieg. Der kahlköpfige Mann am Steuer fuhr in hohem Tempo aus der Stadt, während Xu aus dem Fenster sah und unruhig die Straßen absuchte. Einige Minuten später bogen sie auf eine Schotterpiste ein und folgten ihr bis auf die Kuppe eines kleinen Hügels. Sie befanden sich am Rand der Wüste. Die Sonne stand bereits tief im Westen. Xu ging schweigend bis zur Kante der Erhebung und stieg dann die Flanke des Hügels hinab. Shan folgte ihr und entdeckte dort eine kurze, halb verfallene Holztreppe. Unten setzte Anklägerin Xu sich auf eine klapprige Bank, neben der ein Schild an einem Holzpfosten lehnte, von dem es offenbar abgefallen war. Die Worte darauf waren lediglich in den fließenden Schriftzeichen der Turksprache verfaßt, nicht in chinesisch.
    »Ein alter moslemischer Friedhof«, sagte die Anklägerin und ließ den Blick über viele Reihen identischer, in der Sonne ausgehärteter Gräber schweifen, jedes davon ein langer, zylindrischer Hügel aus Erde und Zement, dessen gewölbte Seiten zu einer schmalen Kante zusammenliefen. Der Anblick ließ an zahllose Säulen eines Tempels denken, die man in symmetrischer Anordnung allesamt umgestürzt hatte. Vereinzelt waren auch kleine, an einen Bienenkorb erinnernde Wölbungen zu sehen, unter denen Shan die eingeäscherten Überreste des jeweiligen Verstorbenen vermutete, und schließlich einige große Exemplare von gleicher Form, in denen man die Leichen aufrecht sitzend und mit vor die Brust gezogenen Knien bestattet hatte.
    Eilig schilderte er der Anklägerin die Beweise, durch die Ko mit dem Angriff auf den dropka -Jungen in Verbindung gebracht wurde.
    »Reine Indizien«, sagte sie.
    »Ko muß sich an jenem Tag mit einem Brigadelaster in Tibet aufgehalten haben, genau wie in der folgenden Nacht, als wir den Männern begegnet sind. Es dürfte nicht schwierig sein, einige seiner Begleiter zu ermitteln. Sie könnten die Leute vernehmen und sich entsprechende Zeugenaussagen sichern.
    Wie ich gehört habe, ist das eines Ihrer Spezialgebiete.«
    Xu ging nicht weiter darauf ein. »Bao hat Laus Leiche gefunden«, sagte sie statt dessen. »Zumindest hat er das behauptet. Also haben wir ihn angerufen und um eine Autopsie gebeten. Er sagte, das Büro habe bereits eine durchgeführt und den Tod durch Ertrinken bestätigt. Die Leiche sei unterdessen in Hotan eingeäschert worden.«
    »Die Leiche?«
    »Er hatte tatsächlich eine Leiche. Aber er wußte nicht, daß auch meine Dienststelle das Krematorium in Hotan nutzt. Also haben wir dort angerufen, und der Techniker sagte, die Einäscherung habe sich verzögert, solle aber in den nächsten Minuten durchgeführt werden. Ich sagte, wir brauchten eine letzte Bestätigung der Identität der Toten. Fünf Minuten später rief er völlig aufgeregt zurück. Es handelte sich überhaupt nicht um eine Frau, sondern um einen jungen Mann. Er war auch nicht ertrunken, sondern durch zwei Schüsse in die Brust gestorben. Solche Fehler kommen vor, habe ich zu ihm gesagt. Er solle den Toten vorerst zurück ins Leichenschauhaus bringen. Wir würden uns melden.«
    »Leutnant Sui.« Shan sprach in Richtung der Gräber, als verdienten die Toten es, davon zu erfahren.
    Die Anklägerin nickte. »Dieser Vertuschungsversuch ist irgendwie seltsam. Falls Bao den Leutnant erschossen hätte, wäre er vorsichtiger gewesen, und es hätte gar keine Leiche gegeben. Er will einen anderen decken. Jemanden, den er dafür nicht strafrechtlich zu verfolgen gedenkt.«
    »Ko hat Sui erschossen. Ich habe mit einem Augenzeugen gesprochen. Der Major hat es herausgefunden, und Ko mußte ihm seinen Sportwagen überlassen und so sein Schweigen erkaufen. Jetzt sind sie dank General

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