Das Auge von Tibet
Bildunterschrift:
»Bei uns in Tibet sagen wir Iha gyal lo! Mögen die Götter siegreich sein. Lassen auch Sie sich diesen Sieg schmecken!«
Es folgten noch weitere Karten, aber Shan konnte es nicht ertragen, sie zu lesen.
Plötzlich ließen die Fahrzeuge neben dem Baseballfeld lautstark ihre Hupen ertönen. Shan legte den Umschlag zurück und schob Lokesh in Richtung Tür. »Nicht zu hastig«, warnte er ihn. Und sieh nicht so tibetisch aus, hätte er beinahe hinzugefügt. Er nahm einen Baseballschläger, der in der Ecke lehnte, sowie eine dicke Jacke, die neben der Tür hing, und reichte letztere an Lokesh weiter. Der alte Tibeter streifte sie eilig über und zog sich die Kapuze tief in die Stirn. Sie durchquerten die Eingangshalle und kamen wiederum an der lächelnden Putzfrau vorbei, die den Empfangstisch hütete. Shan ging voran und hatte sich den Schläger auf die Schulter gelegt. Die Frau winkte ihnen zum Abschied hinterher. Als sie die Tür erreichten, kamen einige Männer von draußen herein, darunter auch ein großer, breitschultriger Chinese, der ausgelassen über das soeben stattgefundene Spiel sprach. Shan warf ihm einen Blick zu und schaute sofort wieder weg. Dann hielt er kurz inne, um noch einmal der tiefen Stimme des Fremden zu lauschen. Als die Gruppe an ihnen vorbeiging und er mit Lokesh das Gebäude verließ, erkannte Shan, daß er den Mann zuvor schon gesehen hatte, und zwar gekleidet in ein leuchtendweißes Hemd, mitten auf einer nächtlichen Straße im Kunlun-Gebirge.
Zwanzig Minuten später trafen sie wieder im Keller des Restaurants ein. Lokesh lächelte und bot den Maos die Jacke als neues Stück für ihren Kleiderfundus an. Er wies auf eine Art Mütze und die Handschuhe hin, die in den Taschen steckten, und hob dann besonders das prächtige Futter hervor, ein synthetisches Fell mit Leopardenmuster. Shan lächelte seinen Freund an und bedankte sich innerlich bei den Schutzgeistern des alten Tibeters. Dann erläuterte er den Maos, was er herausgefunden hatte. Wangtu, der zusammengesunken auf einem Stuhl in der Ecke hockte, richtete sich auf und hörte aufmerksam zu.
Kurz darauf unterbrach Lokesh ihn durch einen ernsten Zwischenruf. Shan drehte sich zu ihm um und sah ihn verwirrt an. Lokesh hatte die Jacke wieder angezogen, diesmal mit dem Leopardenfell nach außen, dazu die braunen Handschuhe und die ebenfalls braune Sturmhaube, die nur Öffnungen für Augen und Mund besaß. Er hielt den Baseballschläger, nicht wie ein Batter, sondern mit einer Hand hoch über die Schulter erhoben. In seiner anderen Hand lag ein länglicher schmaler Gegenstand, den Fat Mao sogleich genauer inspizierte. Der Uigure betätigte einen kleinen Knopf an der Seite des Objekts, und mit einem lauten Klicken schnellte eine Klinge daraus hervor. Ein Schnappmesser.
Shan keuchte erschrocken auf und erhob sich von seinem Stuhl, als ihm klar wurde, was Lokesh da entdeckt hatte. Der Junge bei den dropkas war von einem Dämon in Leopardengestalt angegriffen worden. Einem Dämon ohne Gesicht. Seine Klauen glichen den Händen eines Menschen, und er besaß einen glänzenden Stock, so lang wie der Arm eines Mannes, hatte die Frau erzählt. Shan musterte den Baseballschläger mit der breiten Spitze und dem sich verjüngenden Griffende. Jowa stöhnte laut auf und wandte sich zu Shan um. Seine entsetzte Miene verriet, daß er alles begriff. Der Junge war einem Dämon in der Gestalt eines Leoparden zum Opfer gefallen. Shan hingegen mußte sich nun mit einem Dämon in der Gestalt von Ko befassen.
Shan drehte sich zu Wangtu und betrachtete den mürrischen Kasachen. »Sie müssen dafür sorgen, daß es nach Plan verläuft«, sagte er mit einem kurzen Blick auf Fat Mao. »Sie müssen Xu die Lüge übermitteln.« Er erklärte schnell, was er nun tun werde, ging dann zum drei Blocks entfernt gelegenen Postamt und rief im Büro der Anklägerin an, während Mao der Ochse neben ihm stand und das Gespräch verfolgte. Er ließ sich mit Fräulein Loshi verbinden und hinterließ bei ihr die Nachricht, er werde jetzt zum Marktplatz kommen und wolle sich dort mit Anklägerin Xu treffen, um ihr wichtige Informationen über Direktor Ko mitzuteilen. Eine Minute später machte Mao der Ochse sich auf, um dem kahlköpfigen Mann in der Eingangshalle eine schriftliche Nachricht zu überbringen, während Fat Mao den anderen hastige Anweisungen erteilte.
Fünf Minuten darauf bogen mehrere Fahrzeuge der Kriecher mit heulenden Sirenen auf den Marktplatz
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