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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Viertelstunde stand Jakli auf und trat hinter den rückwärtig aufgehängten Teppich, der als Vorhang diente. Die Frauen dort begannen in gedämpfter Lautstärke aufgeregt mit ihr zu plaudern. Einige Minuten später kehrte Jakli zurück. Ihr Gesicht war gerötet, als hätte sie einen peinlichen Moment erlebt. Dann nahm sie Shans Tasche, die am Zelteingang lag. Shan bedankte sich bei Akzus Frau und folgte Jakli zu dem Zelt bei den Tieren.
    Am Eingang der Jurte erschien Malik und hielt die Zeltklappe auf, als habe er bereits auf sie gewartet. Doch Jakli blieb stehen und sah zu dem Zelt auf der anderen Seite des Lagers. Dann reichte sie Shans Tasche an den Jungen weiter und trat schweigend in die dritte Jurte. Shan zögerte und fragte sich, ob Malik ihm vielleicht eine Erklärung liefern würde. Doch der Junge zuckte nur die Achseln und verschwand wieder hinter der Zeltklappe. Shan folgte Jakli. Als er sich dem dritten Zelt näherte, hörte er ein merkwürdiges, ungleichmäßiges Klickgeräusch. Beim Eintreten blickten fünf Gesichter zu ihm auf. Jowa, Jakli, Fat Mao und Akzus Söhne.
    Jakli saß mit Jowa neben einer kleinen glimmenden Kohlenpfanne. Der Uigure und die beiden Kasachen knieten hinter ihm und betrachteten aufgeregt den Laptop-Computer auf Jowas Schoß.
    Jakli schien erschrocken zu sein. »Beim Stall. In dem Zelt dort ist für Sie und Lokesh eine Schlafstelle vorbereitet.«
    Doch Shan trat näher. Einer der Kasachen murmelte einen Fluch. Jowa blieb gelassen. Er warf Shan nur einen kurzen Blick zu und machte weiter, betätigte hin und wieder eine Taste und verfolgte neugierig die Bildschirmanzeige.
    Jakli stand auf. Sie wirkte unschlüssig. »Das sind bloß ein paar Unterlagen über die landwirtschaftlichen Produktionseinheiten. Jowa hilft uns mit dem Computer.«
    Shan stellte sich neben den Tibeter und konzentrierte sich auf den Monitor. Der purba scrollte soeben durch eine Datei. Der Text war auf chinesisch verfaßt, und jede Seite trug die gleiche Überschrift: »Verzeichnis der Landwirtschaftsproduktion, Bezirk Yutian.« Es gab einzelne Abschnitte für Baumwolle, Wolle, Gerste und Weizen, die jeweils mit Mengenangaben versehen waren. Mehr als siebzig Prozent der Produktion entstammten der Volkseigenen Bau- und Entwicklungsgesellschaft. Andere, kleinere Mengen wurden einer Vielzahl von Kollektiven und Familienunternehmen zugeordnet, die den Rest der hiesigen Industrie ausmachten.
    Bei der Aufstellung der Wollproduktion hielt der Tibeter inne. Einer der Kasachen deutete über Jowas Schulter auf einen Eintrag am unteren Rand des Monitors. »Roter Stein« stand dort. »Das sind wir«, sagte der Mann. »Viehzuchtbetrieb Roter Stein.«
    Jowa markierte den Namen mit dem Cursor und betätigte eine Taste. Auf dem Schirm erschienen die Produktionszahlen des Roten Steins für die letzten fünf Jahre, verbunden mit einem entsprechenden Diagramm. Die Menge hatte stetig abgenommen. Jowa betätigte eine andere Taste und rief damit eine vergleichende Fünfjahresübersicht aller Clans im Bezirk Yutian auf. Der Rote Stein hatte jedes Jahr am wenigsten produziert und kam somit auch auf die niedrigste Gesamtmenge.
    Jakli beugte sich über Jowas Schulter und erläuterte den anderen die Statistik. Obwohl offenbar die meisten der Anwesenden Chinesisch verstanden, schienen längst nicht alle auch die chinesische Schrift zu beherrschen. Als Jakli geendet hatte, stieß einer der Kasachen einen Fluch aus. »Die Brigade«, sagte er. »Jahrelang drücken sie die Preise, behandeln uns in unserem eigenen Land wie Sklaven, und dann sind sie immer noch nicht zufrieden.«
    »Sie nennen sich Volksbrigade«, erklärte Jakli für Shan. »Das Konzept gehörte zu Pekings erster Besiedlungsphase. Viele der Soldaten, die ursprünglich als Besatzungstruppen hergeschickt wurden, bekamen finanzielle Vergünstigungen, damit sie hierbleiben und das Land erschließen würden. Man gründete eine Gesellschaft für sie, die über ausgedehnten Grundbesitz verfügen durfte. Sie haben das gute Weideland genommen, es umgepflügt und darauf Baumwolle und Getreide angepflanzt. Die Gesellschaft wurde größer und größer. Mittlerweile ist die Brigade praktisch so einflußreich wie die Regierung. Sie betreibt Schulen und einige der hiesigen Krankenhäuser. Im Auftrag des Ministeriums für Justiz und Öffentliche Sicherheit werden sogar manche der Gefängnisse von ihr verwaltet. Tausende von Arbeitern. Hunderte von Unternehmen. Gegen diese Konkurrenz können

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