Das Auge von Tibet
unterwegs gewesen und hat die Kinder medizinisch versorgt, den ärmsten Familien Nahrung gebracht oder manchmal auch Sonderunterricht erteilt. Ich schätze, nur Lau kannte den Aufenthaltsort jedes einzelnen Kindes. Vielleicht wird diese Geheimhaltung den Waisen letztlich das Leben retten.«
»Demnach wußte Lau auch, daß der Clan des Roten Steins hier in diesem Lager war?«
Akzu nickte. »Sie wußte, daß wir diesen Platz im Herbst dazu nutzen, unsere Herden zu sammeln und auf den Winter vorzubereiten. Aber es ist nicht wichtig, was Lau wußte. Bajys war hier.« Akzu wandte sich erneut zu dem frischen Erdhügel um. »Die ermordeten Kinder haben im Lager des Roten Steins gelebt beziehungsweise dem Lager des Roten Steins einen Besuch abgestattet«, stellte er mit finsterer Miene fest und machte sich auf den Rückweg nach unten.
Als sie wieder im Lager eintrafen, stand die Zeltklappe der mittleren Jurte weit offen. Eine grauhaarige Frau erschien im Eingang, betrachtete die sich nähernden Fremden mit starkem, stolzem Blick und bat sie dann mit einer Geste hinein. Shan folgte Jaklis und Akzus Beispiel, trat zu einer Schüssel mit Wasser und wusch sich die Hände. Der Boden des Zeltes war mit einem dicken Teppich ausgelegt. Nahe der Mitte ließ Shan sich auf einem Kissen nieder und nahm aus den Händen der Frau eine kleine angeschlagene Porzellantasse entgegen, in der eine heiße Flüssigkeit dampfte.
»Meine Frau backt heute«, verkündete Akzu, während die grauhaarige Frau in einem brodelnden Kessel rührte, der über einer großen Kohlenpfanne hing. Neben ihr standen ein Tontopf voller Joghurt und ein großer flacher Stein, auf dem ein Stapel nan lag, das von den chinesischen Moslems bevorzugte Fladenbrot. »Ihr schlaft bei unserem Clan, in dem Zelt bei den Ställen.«
Shan nickte der Frau grüßend zu. Sie lächelte schüchtern. Dann trank er einen Schluck. Er hatte mit Tee gerechnet, doch das hier war etwas anderes.
»Warme Ziegenmilch«, erklärte Jakli. Hinter einem Vorhang an der Rückwand des Zeltes hörte Shan Stimmen. Dann spähten die beiden anderen Frauen, die er zuvor schon gesehen hatte, vorsichtig um die Ecke, sahen Jakli mit erwartungsvollem Lächeln an und verschwanden wieder.
Die Milch war überraschend bitter, erfüllte seinen Magen jedoch mit angenehmer Wärme. »Ist dieser Bajys je fort gewesen?« fragte Shan.
»Fort?« wiederholte Akzu. Er leerte seine Tasse, griff dann hinter sich und zog einen kleinen Trinkschlauch hervor. Mit beiden Händen streckte er ihn Shan entgegen und neigte leicht den Kopf.
Shan nahm den Schlauch, wandte den Blick aber nicht von Akzu ab. »Der Tod von Tante Lau hat sich mehr als eine Woche zuvor ereignet. Könnte Bajys sie ebenfalls ermordet haben?«
Jaklis Kopf ruckte mit plötzlichem Interesse hoch, als sei ihr dieser Gedanke bislang noch gar nicht gekommen.
»Nein«, erwiderte Akzu nach kurzem Überlegen. »Er war den ganzen letzten Monat hier beim Clan. Dieser Ort in der Wüste, an dem Tante Lau gestorben ist, Karatschuk... der Hin- und Rückweg würde mehr als einen Tag dauern. Wenn Bajys mit Khitai auf die Hochweiden gezogen ist, war er nie mehr als vier oder fünf Stunden weg.« Der Clanälteste nickte in Richtung des Trinkschlauchs. »Kumys«, sagte er. »Trink.«
Also gab es zwei Mörder, dachte Shan. Und Bajys stellte nur einen Teil der Antwort dar. »Karatschuk?« fragte er. »Was wollte Tante Lau dort?«
Jakli und ihr Onkel runzelten beide die Stirn und sahen sich an. »Da gibt es eine Oase, das ist alles«, entgegnete Akzu rätselhaft und lenkte das Gespräch weg von Lau und dem toten Jungen. Statt dessen widmete er sich als guter Hausherr nun seinem Besuch und folgte damit den Regeln der Gastfreundschaft, die Shan auch schon in einigen tibetischen Nomadenzelten kennengelernt hatte. Er zeigte Shan, wie man den hölzernen Pfropfen aus dem Trinkschlauch drehte und sich dann einen Strahl der Flüssigkeit direkt in den Mund spritzte. Shan tat es ihm unsicher nach, denn aus Tibet waren ihm solche Trinkschläuche nicht vertraut. Als der scharfe Alkohol auf seinen Gaumen traf, wäre ihm beinahe die Luft weggeblieben.
Akzu lächelte. »Gegorene Stutenmilch«, erklärte er, nahm den Schlauch von Shan wieder entgegen und trank einen großen Schluck des fahlweißen Gebräus. Nach einem zufriedenen Seufzer erzählte er, daß den Pferden gegenwärtig ein sehr dichtes Fell wuchs, was auf einen harten bevorstehenden Winter schließen ließ. Nach einer
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