Das Auge von Tibet
fernen Hochweiden in der Nähe der Eisfelder, wo niemand sonst je hinkommt. Wenn sie Vorräte brauchen, ziehen sie zum Handeln in eines der kleinen Lager, so auch zu uns. Manche haben ebenfalls einige von Laus Kindern bei sich aufgenommen. Sie hat gesagt, auf diese Weise würden die Schattenclans mit dem Rest der Welt in Verbindung bleiben.« Er schaute zu der Frau am oberen Ende des Grabs. »Wir haben zusammen gegessen, und bei Einbruch der Dunkelheit sind sie weitergezogen. Malik war nicht da, also hat Khitai mit dem Jungen der anderen Familie gespielt, einem seiner Freunde aus der zheli . Den Großteil des Tages waren sie auf den Hügeln unterwegs. Beim Essen hat mir der andere Junge erzählt, wieviel Spaß sie zusammen hatten. Seine Schattenfamilie beherrscht nämlich weder seinen Heimatdialekt noch Mandarin besonders gut.«
»Das waren keine Kasachen?«
Akzu schüttelte den Kopf. »Dropkas, Tibeter. Eine der Grenzfamilien. Viele der dropkas auf dieser Seite der Grenze haben mit Lau zusammengearbeitet.«
Der neuerliche Ansturm des Kummers ließ Shan die Augen schließen. So kurz hintereinander an den Gräbern zweier Kinder zu stehen war für ihn mindestens genauso schlimm wie die Leiden seiner Haft. »Die Leute sind uns begegnet«, sagte er dann und bekam die Worte nur mühsam über die Lippen. »Wir haben den Jungen begraben«, fügte er hinzu und erklärte, was auf der Changtang geschehen war. Jakli stöhnte leise auf. Akzu senkte den Blick und sagte einige Worte in seiner Muttersprache. Es klang wie ein Gebet.
»Wo war Bajys an jenem Tag?« Shan hatte schon vor langer Zeit gelernt, nicht an Zufälle zu glauben. Der Mörder hatte es auf die beiden Jungen abgesehen und sie im Abstand von nur zwei Tagen getötet. »Warum sollte er Khitai umbringen wollen? Und wieso dann auch noch Alta?«
Akzu warf Jakli einen ernsten Blick zu. »Am Tag vor dem Mord an Khitai war Fat Mao hier und fragte, ob wir ihm mit den Leuten aus Tibet helfen würden, die wegen Lau kommen sollten.« Bei diesen Worten musterte Akzu erst Lokesh, der alt und gebrechlich am Rand des Grabes saß, dann Shan und schließlich Jowa. Ein betagter Tibeter, ein verbannter Chinese und ein mürrischer, unglücklicher Krieger. Nicht unbedingt die Hilfe, mit der Akzu gerechnet hatte.
»War Bajys auch da? Und wußte er von Laus Tod?«
»Nein, Laus Tod wurde vor der zheli geheimgehalten. Die Kinder hatten aus der Stadt allenfalls Gerüchte über Laus Verschwinden gehört. Doch Bajys kam ins Zelt und starrte Fat Mao an. Wir fragten ihn, was er wollte, aber er starrte einfach nur Fat Mao an, drehte sich dann um und rannte weg. Er muß Bescheid gewußt haben. Vielleicht hat er das Gespräch belauscht, vielleicht kannte er Fat Mao auch aus der Stadt. Eine solche Neuigkeit kann das Leben eines Mannes verändern. Für manch einen wäre das wie ein unerwarteter Goldfund mitten auf der Straße. Geh zur Anklägerin, erzähl ihr von der geheimen Widerstandsbewegung, und liefere ihr ein paar Namen. Dann bekommst du eine Belohnung, irgendwo eine Anstellung und damit ein neues Leben. Ich glaube, Bajys hat dem Jungen an jenem Tag sein Vorhaben gebeichtet, und Khitai war damit nicht einverstanden und hat gedroht, Fat Mao zu warnen und Bajys aufzuhalten. Aber Bajys hatte nichts zu verlieren. Das war vielleicht die größte Chance, die sich ihm je bieten würde. Dieser andere Junge muß das alles mitbekommen haben.«
»Hatte Bajys eine Schußwaffe?«
»Anscheinend. Viele Kasachen haben Waffen für die Jagd.«
»Wo ist es geschehen?«
»Hier, genau an diesem Ort. Der Junge saß an den Felsen gelehnt, nicht weit von der Stelle, an der wir ihn beerdigt haben.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Als er am nächsten Morgen nicht zum Frühstück erschien, hat Malik ihn gesucht. Khitai hat viel Zeit hier verbracht. Dieser Ort ist ruhig. Bajys hat ihm hier Unterricht erteilt. Bei Tagesanbruch kam Malik den Pfad hinauf und rannte dann schreiend wieder zu uns zurück. Ich dachte zuerst, es sei irgendein schrecklicher Unfall geschehen. Daß Khitai vielleicht eine Waffe gefunden und damit herumgespielt hatte.«
»Aber da war keine Waffe«, warf Shan ein.
Akzu schüttelte langsam den Kopf.
»Hat jemand die Leiche des Kindes untersucht?«
»Es gibt hier in der Nähe keinen heiligen Mann. Keinen Mullah. Unsere Toten müssen schnell bestattet werden, noch bevor die Sonne untergeht. Meine Frau ist hergekommen, hat ihn gewaschen und ihn in ein Leichentuch gehüllt. Sie kannte Khitai
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