Das Auge von Tibet
nicht besonders gut.« Akzu seufzte. »Aber sie weiß, wie man Kinder beerdigt. Wir haben Lieder gesungen. An und für sich sollte es darin um das Leben des Toten gehen, aber niemand wußte genug von Khitai.« Er sah Jakli an, als wolle er sie beruhigen. »Also haben wir darüber gesungen, wie es ist, auf dem Pferderücken über die Hochweiden zu ziehen und den Flug des Adlers zu beobachten.« Der nächste bedeutungsvolle Blick galt Shan. »Es war eine einzige Kugel mitten in die Stirn«, erklärte er leise. »Ein kleines Kaliber. Nicht laut. Niemand hat etwas gehört.« Er hielt inne, als wolle er Shan auffordern, ihn nach dem Grund für solche genauen Waffenkenntnisse zu fragen. »Keine Austrittswunde am Hinterkopf. Es war ein Steckschuß.«
»Sonst nichts? Irgendwelche Anzeichen für einen Kampf?«
»Seine Kleidung war zerrissen, vor allem das Hemd und eines der Hosenbeine. Ein Schuh fehlte.« Akzus Augen richteten sich auf die Hügel und dann besorgt wieder auf Shan. Ihn bedrückte noch etwas anderes. Eigentlich hatte er nur Jowa ins Lager mitnehmen wollen, erinnerte Shan sich. Weil Jowa sich mit der Öffentlichen Sicherheit auskannte.
»Aber Sie sagten doch, Bajys und Khitai seien Verwandte gewesen oder hätten zumindest aus demselben Clan gestammt. Immerhin waren die beiden schon lange zusammen.«
Akzu schüttelte langsam den Kopf. »Bajys war ein unsteter Charakter. Manche Leute sind im Umgang mit Kindern ziemlich nervös. Bisweilen hat er sich dem Jungen gegenüber wie ein Onkel verhalten. Beim Essen ermahnte er Khitai, gute Manieren an den Tag zu legen. Manchmal war er mehr wie ein Lehrer. Aber mitunter schien es fast so, als habe er Angst vor dem Jungen.«
»Angst?«
»Nein, das trifft es nicht genau.« Der Clanälteste runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Hin und wieder schien Khitai wie eine Art älterer Bruder zu sein, und Bajys bemühte sich, ihm alles recht zu machen.« Akzu blickte kurz himmelwärts und zuckte dann die Achseln. »Wenn ein Fohlen ohne Herde aufwächst, bleibt es scheu und nervös.«
»Waisenkinder haben allen Grund, scheu und nervös zu sein«, wandte Shan ein.
Akzu nickte. »Aber die Hunde mochten Bajys«, fügte er hinzu und klang dabei verwirrt, als sei ihm dies unbegreiflicher als alles andere. »Falls er je die chinesische Stadt verläßt, werden wir ihn finden. Die Clans regeln so etwas ohne die Behörden. Wir üben unsere eigene Gerechtigkeit. Doch er weiß, daß wir ihn in der Stadt nicht erwischen können. Dort sind zu viele Kriecher.«
»Eure eigene Gerechtigkeit?«
»Wir kennen den Mörder«, sagte Akzu mit eisiger Stimme. »Irgendwann bekommen wir ihn zu fassen, und dann wird er den Preis bezahlen, den alle Mörder bezahlen müssen.«
Die Worte überraschten Shan. Buddhisten waren üblicherweise nicht auf Rache aus. Mittlerweile aber befanden sie sich in einem moslemischen Land, und Moslems glaubten an den Wert der Vergeltung.
»Was ist mit Laus anderen Kindern, dem Rest der zheli ?« fragte Shan. »Hat man sie gewarnt? Solange der Täter nicht gefunden ist und wir den Grund für die Morde nicht kennen, sind sie alle in Gefahr.« Akzus Worte zu Beginn des Ritts gingen ihm noch immer nicht aus dem Kopf. Vielleicht will der Dämon alle diese Kinder töten, hatte der Clanälteste gesagt.
Dreiundzwanzig Waisen, und jetzt waren nur noch einundzwanzig davon am Leben.
Akzu und Jakli tauschten einen besorgten Blick aus. »Eine entsprechende Aufforderung ist ergangen«, sagte Akzu mit gequälter Stimme. »Wir tun, was in unserer Macht steht.«
»Das ist nicht so einfach«, erklärte Jakli. »Deshalb hat Lau sie ja auch als ihre zheli bezeichnet. Diese Kinder sind wie Wildpferde, überall in den Bergen verstreut, immer unterwegs, immer argwöhnisch.«
»Aber man weiß doch, wo sie untergebracht sind. Bei welchen Pflegefamilien.«
Akzu schüttelte den Kopf. »Untergebracht? Sie sind bei Nomaden und begleiten bis zum Winter die Herden. Nur für Laus Unterricht wurden die Kinder zusammengeholt. Die Briefe für sie werden auf Höfen oder in der Stadt hinterlegt. Manche Leute kennen die Namen der Clans und vielleicht auch deren traditionelle Weidegründe. Wir zum Beispiel wissen von zwei Mädchen aus der zheli , in einem Tal nicht weit von hier. Die beiden bleiben inzwischen in ihren Zelten und sind nie ohne Aufpasser.« Sein Blick schweifte über die Berge. »Seit ihrem Ausscheiden aus dem Landwirtschaftsrat ist Lau oft allein im Gebirge
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