Das Auge von Tibet
wie wenig die Brigade auf eine formelle Erlaubnis angewiesen war. »Ich meine, das haben sie doch noch nie getan.«
Shan fand seine Stimme wieder. »Falls diese Leute den Lama haben«, drängte er, »falls der rote Lastwagen mit Gendun Rinpoche zurück nach Xinjiang gefahren ist, wo würde man ihn gefangenhalten? Wohin würden sie sich wenden?«
Der Uigure griff langsam in die Jackentasche und zog daraus einen Umschlag hervor, dem er eine Computer-Diskette entnahm. »In eine ruhmreiche Zukunft«, sagte er und lächelte humorlos.
Verwirrt beobachtete Shan, daß Jowa die Diskette nahm und ins Laufwerk des Computers steckte. Als der Monitor wieder hell wurde, standen dort große chinesische Schriftzeichen zu lesen, die früher zu Shans täglichem Leben als Ermittler in Peking gehört hatten. Nei lou. Vertraulich. Nur für den internen Dienstgebrauch. Bei diesem Anblick schien in Jowas Augen eine Flamme aufzulodern.
Der Uigure beugte sich vor und betätigte mehrere Tasten.
»Umerziehungseinrichtung Ruhm des Volkes«, las Jowa laut vor, als die Bildschirmanzeige sich veränderte. »Lao jiao Lager 947.« Lao jiao Anstalten dienten in erster Linie der Indoktrination und waren für die Bestrafung von Tätern gedacht, deren politische Vergehen als gering erachtet wurden und nicht für die Einweisung ins Gulag ausreichten. Die Beimessung der einzelnen lao jiao Strafen wurde administrativ geregelt, was bedeutete, daß bereits ein einzelner Beamter die Inhaftierung eines Bürgers veranlassen konnte, ohne Richter, ohne Prozeß.
»Die Jadehure«, sagte Fat Mao leise.
Shan sah ihn fragend an.
»Die Anklägerin von Yutian. Xu Li«, erklärte der Uigure. »So kalt und hart wie Jade. Das Lager Volksruhm ist ihr persönliches Verlies. Laß einen Furz in ihrer Nähe, und schon darfst du im Lager Volksruhm ein paar Monate lang Reis fressen.«
»Kürzlich erfolgte Einweisungen«, las Jowa vom Monitor ab. »Aber es ist noch zu früh«, sagte er. »Die Diskette.«
»...ist auf dem Stand von sechs Uhr gestern nachmittag«, fuhr Fat Mao ihm mit verschwörerischer Stimme ins Wort.
»Gendun wurde erst letzte Nacht gefangengenommen.«
»Sieh genau hin«, sagte der Uigure und nickte in Richtung Bildschirm.
»Nummern ohne Zuteilung«, las Jowa verwirrt.
»Richtig. Sie läßt immer ein paar Nummern für die anderen Einweisungsberechtigten reservieren. Die Kriecher. Die Armee. Die Sicherheitsteams der Brigade. Die Frau ist geradezu besessen von ihrer eigenen Tüchtigkeit. Offene Häftlingsakten ohne Namen, nur aufgrund der voraussichtlichen Verhaftungen. Basierend auf diesen Zahlen wird von den Wärtern das Essen bestellt, die Unterbringung vorbereitet und die Personalstärke eingeteilt. Die Brigade kann einfach irgendeinen Gefangenen mitbringen und den Namen am Tor eintragen. Manchmal läßt Xu Li schon im voraus den Grund der Festnahme vermerken. Mittäterschaft in einer Jugendbande. Kultureller Revisionismus.«
»Ein paar Nummern?« fragte Jowa nach. »Das hier sind mindestens dreißig oder vierzig.«
Beunruhigt beugte der Uigure sich über den Computer. »Ta ma de!« rief er. »Verflucht! Was hat sie vor?«
Sie scrollten zwischen den tatsächlichen Einweisungen und den reservierten Nummern hin und her. Einige Minuten später richtete Fat Mao sich wieder auf. Er war wütend. »Normalerweise werden pro Woche ungefähr fünf oder sechs neue Häftlinge ins Lager Volksruhm eingewiesen. Vor einer Woche hat sie vierzig offene Nummern angelegt. Zehn wurden für die Brigade reserviert, zehn für die Kriecher, und zwanzig hat sie selbst behalten. Drei Tage später war die Hälfte schon belegt. Zwanzig neue Insassen. Gestern sechs weitere und dann.« Er hielt mitten im Satz inne und deutete auf den Monitor. »Da ist noch etwas«, sagte er. »Gestern hat man sechs zusätzliche offene Akten angelegt. Für das Büro für Öffentliche Sicherheit.«
»Aber die Kriecher haben doch bereits.«, wollte Jakli einwenden.
»Nein. Damit habe ich die hiesigen Kriecher gemeint«, sagte Fat Mao mit tiefer Stimme, die fast wie ein Knurren klang. »Das hier ist anders. Hier steht Hauptquartier der Öffentlichen Sicherheit. Einsatzkommandos. Im direkten Auftrag der Oberhäupter dieser verdammten Regierung.«
Die Worte legten sich wie ein Leichentuch über die Anwesenden. Schweigend starrten sie alle den Bildschirm an.
»Nichts über Mönche«, flüsterte Jowa schließlich Shan zu. »Kein Wort von Gendun oder irgendwelchen Tibetern.«
»Das Hauptquartier
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