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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Seine Hände schlossen sich fest um das Gehäuse des Computers. »Ich bin auch auf den Weiden und mit den Tieren aufgewachsen«, sagte Jowa unvermittelt. Alle anderen hielten inne und sahen ihn an. Der plötzliche Schmerz in seiner Stimme überraschte sie. »Meine Familie hat in einem Tal gelebt. Eines Tages kamen sie mit mehreren großen Lastwagen. Wir waren ungefähr fünfzig Leute und mußten hinten auf die Ladeflächen von zwei der Wagen steigen. Sie sagten, da wir Land besäßen, seien wir Reaktionäre. Jetzt brauche unser Land die chinesische Technik. Sie würden mit Traktoren herkommen und chinesischen Weizen anpflanzen. Dann haben sie vor unseren Augen unsere gesamte Habe durchwühlt. Alles, was mit der Aufzucht der Herden oder unserem Leben als Nomaden zu tun hatte, wurde in das Hauptzelt geworfen. Sogar die Teppiche, die sich seit acht Generationen im Besitz meiner Familie befunden haben. Die anderen Zelte wurden abgerissen und ebenfalls dort verstaut. Danach haben sie das große Zelt einfach angezündet.
    Meine Mutter schrie. Ein Soldat schlug ihr mit dem Kolben seines Gewehrs vier Zähne aus. Meine Schwester rannte los, um ihr Pony zu umarmen, also haben sie das Tier erschossen. Mein Vater stimmte ein Mantra zur Anrufung des Mitfühlenden Buddhas an, und sie packten seine Gebetskette, die aus Koralle bestand und aus der Zeit des siebten Dalai Lama stammte, und schnitten sie durch, so daß alle Perlen ins Gras fielen. Meine Tante sprang einem der Soldaten auf den Rücken, schrie und zerkratzte ihm das Gesicht.« Jowas Stimme erstarb.
    »Falls dein Feind dir nur die Hände läßt, kratzt du nach seinen Augen«, stellte Akzu mit eisiger Stimme fest. »Falls man dir auch die Hände nimmt, kannst du immerhin noch zubeißen.« Er sprach die Worte in einem eigentümlichen Singsang. Es klang wie ein altes Kampflied.
    Jowa nickte langsam. »Ein paar der Soldaten haben meine Tante auf eine der Weiden geschleift. Dort haben sie ihr etwas angetan, und daran ist sie gestorben. Ihre Leiche wurde einfach ins Feuer geworfen, und dann hat man uns fortgebracht. Unterwegs stimmten die Soldaten Lobgesänge auf den Großen Vorsitzenden an und schlugen uns mit ihren Gewehren, bis wir in die Lieder einstimmten.«
    »So schlimm ist es heute nicht mehr«, sagte einer der Kasachen, klang dabei jedoch nicht allzu selbstsicher. »Nicht mehr so gewalttätig.«
    Jowa schnaubte wütend. »Heutzutage benutzen sie dazu Computer und Bürokraten. Und Gesellschaften.« Er wandte sich an Akzu. »Du glaubst, Mütter, Väter und Kinder würden jeweils zusammen an einen Ort geschickt? In Tibet war das anders. Die Familien treffen in ihrer neuen Wohnung ein, und am nächsten Tag steht ein Chinese vor der Tür, um das Kind abzuholen, weil es auf eine besondere Schule gehen soll. Ein Internat, weit weg.
    Dort läßt man die Kinder ein kleines rotes Buch auswendig lernen. Und wenn sie zurückkommen, tragen sie einen chinesischen Namen und machen sich über eure Traditionen nur noch lustig.«
    Akzu sah aus, als hätte man ihm einen Tritt in den Bauch verpaßt. Er preßte eine Hand auf den Leib und stand langsam und wie unter großer Anstrengung auf. Dann verließ er das Zelt, ohne sich noch einmal umzublicken.
    »Bis gestern nacht war ein heiliger Mann bei uns«, sagte Shan in die folgende Stille hinein. »Dann ist er verschwunden.«
    Jakli seufzte laut auf. Fat Mao schien regelrecht zu erstarren. »Wer hat ihn entführt?« fragte er barsch.
    Doch Shan konnte nicht antworten. Schon die ersten Worte hatten ihn wieder mit Angst erfüllt. Er verspürte den verzweifelten Drang, einfach loszurennen, in die Berge zurückzukehren und nach Gendun zu suchen. Die Lamas hatten sich geirrt, hatten zuviel von ihm erwartet. Er wußte nichts über die Moslems. Er kannte sich in Xinjiang nicht aus. Er konnte wegen der Morde an diesen Kasachen nichts unternehmen.
    Jowa faßte die Ereignisse des Vorabends für die anderen zusammen.
    »Uniformen?« fragte Fat Mao.
    »Keine.«
    »Welche Farbe hatte der Lastwagen?«
    Jowa sah Shan an. »Hang«, entgegnete der purba . Rot.
    Der Uigure und Jakli tauschten einen beunruhigten Blick aus. Dann begann Fat Mao laut zu fluchen.
    Jakli wandte sich an Shan. »Die Brigade«, sagte sie langsam. »Sie fahren rote Lastwagen.« Fragend schaute sie sich zu dem Uiguren um. »Aber sie können nicht auf tibetisches Gebiet vordringen. Dazu sind sie gar nicht ermächtigt.« Im selben Moment verzog sie das Gesicht, als würde ihr klar werden,

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