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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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wir einfach nicht bestehen.«
    »Die Brigade und die Armee sind letzten Endes dasselbe?« fragte Shan. Chinas Militär besaß traditionell enge Bindungen an gewisse Wirtschaftsbetriebe.
    »Vor fünf Jahren hat man die Brigade privatisiert«, erwiderte Jakli. »Aber sie wird auch heute noch wie die Armee geführt. An der Spitze stehen frühere Generäle, natürlich ausnahmslos Han-Chinesen.«
    »Wie ein Königreich«, sagte hinter ihnen jemand mit bitterer Stimme. Akzu hatte das Zelt betreten. »Ein eigenständiges Königreich innerhalb des Landes, gefördert von Peking.«
    »Und wieso sollen Sie.«, setzte Shan an.
    »Es heißt, die Produktion müsse effizienter werden«, unterbrach Akzu ihn sarkastisch. »Man sagt uns, die kleinen Clans würden zu kostenintensiv arbeiten.«
    »Kostenintensiv?«
    »Das ist Teil des Programms zur Beseitigung der Armut«, sagte Jakli. »Eine von der Regierung erlassene Leitlinie, deren Durchführung in den Händen der Brigade liegt.«
    »Aber was hat das alles mit Ihrem Clan zu tun?«
    Jowa klappte lautstark den Deckel des Laptops herunter. »Die kleinsten Erzeuger werden aufgekauft«, erläuterte er. »Die Brigade ermittelt die leistungsschwächsten Unternehmen und teilt deren Arbeitskräfte effizienteren Betrieben zu. So etwas wird dann Wertzuwachs genannt.«
    »Das heißt, man wird dem Clan ein anderes Stück Land zuweisen?«
    »Nein«, sagte Akzu. »Die Regierung hat vor einigen Jahren verfügt, daß Clans wie wir unsere Geschäfte in Form einer Kapitalgesellschaft tätigen müssen. Und jetzt kauft die Brigade alle Anteile auf.«
    »Was ist, wenn ihr damit nicht einverstanden seid?« fragte Jowa.
    »Ich habe in der Stadt einen Begriff dafür gehört«, warf Jakli ein. »Feindliche Übernahme. Er war in aller Munde, als handle es sich um eine Art Witz, als habe jemand in einer amerikanischen Zeitschrift darüber gelesen.«
    »Aber der bloße Aufkauf der Anteile dürfte sich doch nicht auf den eigentlichen Clan auswirken, oder?« fragte Shan.
    Jakli verzog das Gesicht. »Für die sind wir kein Clan, sondern nur neue Angestellte. Die Brigade hat bereits über die Zukunft des Roten Steins entschieden. Wir werden alle auf verschiedene Städte aufgeteilt, damit der Clan zerfällt. Eltern mit Kind bekommen ein eigenes Quartier zugewiesen. Die anderen werden in Arbeiterwohnheimen untergebracht.« Bei diesen Worten schien sie zu erschaudern. Sie legte sich eine Hand auf die Brust, als leide sie an Atemnot.
    Der Clanälteste nahm neben seinen Söhnen Platz und zog einen zusammengefalteten Umschlag aus der Manteltasche. »Letzte Woche haben wir diesen Brief bekommen. Bis zum Ende des Monats sollen wir unsere Herden, die Pferde, die Hunde und sogar unsere Zelte bei der Brigade abliefern. In wenigen Tagen, direkt nach unserem herbstlichen Reiterfest, dem nadam. Alle Angehörigen des Clans müssen sich melden und erhalten neue Aufgaben zugeteilt.« Er wies auf einen Stapel Papier neben dem Computer. »Ein abschließendes Inventar der Vermögensmasse muß ebenfalls vorgelegt werden. Jedes Schaf, jedes Lamm, jeder verdammte Löffel und Topf.«
    »Programm zur Beseitigung der Armut«, sagte Jowa mit hohler Stimme. »Diese Schweine beseitigen den Clan.«
    Tiefes Schweigen senkte sich über das Zelt. Eine Weile war nur noch das Schnauben der draußen angebundenen Pferde zu hören.
    »So klar hat es bis jetzt noch niemand formuliert«, sagte Akzu dann.
    Fat Mao stand auf. »Aber es stimmt. Dieser Tibeter spricht die Wahrheit. Genauso haben sie es mit den Höfen der Uiguren gemacht und auch mit den Kasachen im Norden.« Seine Augen verengten sich und richteten sich auf Shan. »Programm zur Beseitigung der Armut.« Er stieß die Worte verächtlich hervor. »Das alles hat keine wirtschaftlichen Gründe. Es geht um Politik. Der Plan stammt von den Leuten aus Peking. Sie wollen verhindern, daß Uiguren und Kasachen je wieder das traditionelle Leben ihrer Völker führen können.« Er sah nun Jowa an. »Die Chinesen sind sehr schlau. Sie studieren ein Volk und finden heraus, was diesem Volk am wichtigsten ist. Dann ersinnen sie Mittel und Wege, um genau diesen Punkt auszuhöhlen, ihn erst jeglicher Macht zu berauben und dann gänzlich verschwinden zu lassen. In Tibet nehmen sie euch eure heiligen Männer. Sag mir, mein Freund, könnt ihr euch ohne eure heiligen Männer noch als echte Tibeter fühlen?«
    Jowa wandte das Gesicht ab und schaute dann zu Shan. Sie hatten ihren heiligen Mann bereits verloren.

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