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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hinzuweisen, der ihren Weg kreuzte.
    Der Trampelpfad oberhalb der Wiese verlief parallel zu einem Bach. Sie folgten seinem Verlauf mehr als einen Kilometer und kamen dabei an weiteren Rhododendronsträuchern und hohen immergrünen Gehölzen vorbei. Shan konzentrierte sich auf den Pfad. Es war eigentlich kaum mehr als ein Wildwechsel, doch nach den vielen geknickten Zweigen und Sämlingen zu schließen, hatte hier in letzter Zeit anscheinend reger Verkehr geherrscht.
    Dann erreichten sie eine kleine Lichtung, die am hinteren Ende durch eine senkrechte, fast fünfzehn Meter hohe Felswand begrenzt wurde. An einem der unteren Äste einer uralten Kiefer, die sich bis weit über die Wand erhob, baumelte etwas von Menschenhand Geschaffenes im Wind. Es handelte sich um einen diamantförmigen Rahmen aus Zweigen, der von einem Bindfaden zusammengehalten wurde und über den zahlreiche bunte Schnüre gespannt waren. Eine Geisterfalle, ein Talisman, wie ihn viele der nomadischen Kulturen benutzten, um die Teufel zu fangen, die durch die Luft flogen.
    Jakli blieb am Fuß der Wand stehen und bedeutete ihren drei Begleitern, ihr zu der Rückseite des Baums zu folgen. Shan trat vor. Im Schatten der Kiefer befand sich ein noch dunklerer Fleck. Es war ein Loch im Felsen, eine schmale Spalte, kaum zwei Meter hoch und gerade breit genug, um sich seitwärts hindurchzuschieben.
    Shan bemerkte, daß Lokesh einen kleinen Strauch neben der Öffnung ansah. Nein, erkannte er, das war gar kein Strauch, sondern Blumen, die jemand am Rand der Spalte abgelegt hatte, größtenteils Astern, jene herbstlichen Wildblumen, die zur Zeit auf den Hängen blühten. Einige sahen dermaßen frisch aus, als würden sie erst seit einer Stunde dort liegen; andere waren schon vertrocknet. Neben dem Haufen lag mehr als ein Dutzend primitiver Tierfiguren aus Zweigen, die man mit braunen Fäden und Ranken zusammengebunden hatte. Manche der Gestalten hatten lange Beine und sollten wohl Pferde darstellen, während andere, kurzbeinige Gebilde vermutlich für Schafe oder Ziegen standen. Außerdem lagen dort mehrere kleine Gegenstände aus Ton, die wie Töpfe und Glocken geformt waren. Als Shan sich herabbeugte, um die Sachen genauer in Augenschein zu nehmen, streifte ihn plötzlich ein eisiger Hauch. Er fröstelte, und die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf. Der Luftzug stammte aus der Höhle.
    Jakli kam zu ihm. Sie stand mit geschlossenen Augen in der kalten Strömung und wirkte dabei sehr ehrfürchtig, als würde sie beten. Shan hatte von solchen Höhlen gehört. Manche Leute glaubten, an diesen Orten wohne der Tod, und der Hauch sei sein Atem. Einige der alten Tibeter behaupteten, die Plätze stellten Durchgänge in die acht kalten Höllen dar, von denen bereits die frühesten tibetischen Sekten berichtet hatten.
    Aus ihrer Jacke zog Jakli eine kleine batteriebetriebene Taschenlampe hervor und gab sie Shan. Dann griff sie hinter den Haufen Blumen, holte von dort zwei Äste, deren Enden mit Harz getränkt waren, und reichte sie Jowa. Nachdem sie die Fackeln mit einem Streichholz entzündet hatte, nahm sie eine davon für sich selbst und betrat die Höhle. Shan folgte ihr.
    Sein Mund war auf einmal ganz trocken. Sie würden nun Tante Lau besuchen.
    Nach ein paar Schritten verbreiterte sich der Durchgang auf etwa drei Meter, wurde gleichzeitig jedoch deutlich niedriger, so daß sie sich vorbeugen und die Lichter seitlich von sich strecken mußten. Der kalte Luftzug schien stärker zu werden und ließ die Flammen der Fackeln beinahe erlöschen. Kurz darauf erreichten sie eine größere Kammer von ungefähr fünfzehn Metern Breite, mehr als vierzig Metern Länge und rund sechs Metern Höhe. Die Luft hier war wesentlich ruhiger, allerdings noch kälter. Jowa reckte die Fackel empor und keuchte überrascht auf. Die Decke reflektierte das Licht und schien zu glühen. Lange kristallklare Stalaktiten hingen herab. Sie bestanden aus Eis. Die gesamte Decke war von Eis überzogen.
    »Es ist noch gar nicht allzu lange her, daß diese Hügel unter einem Gletscher lagen«, erklärte Jakli leise. Sie ging durch die Kammer voran zu einer anderthalb Meter breiten Öffnung, hinter der sich ein kleinerer, nur etwa sechs Meter langer Raum befand.
    Dort in der kalten Finsternis wartete Tante Lau.
    Sie lag auf einem kniehohen Felssockel am hinteren Ende der Kammer. Ihre Hände waren über dem Bauch verschränkt, und ihr Gesicht wirkte so friedlich, als würde sie schlafen.
    Jakli

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