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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Vorbereitungen zu der Beisetzung, hat da jemand.« Als er langsam und mit äußerster Vorsicht die Gamaschen abwickelte, erhielt er die Antwort auf seine Frage. »Ai yi!« entfuhr es ihm leise. Die Schienbeine waren mit unverheilten Blutergüssen und Striemen übersät. Man hatte die Lehrerin geschlagen, und zwar lange genug vor ihrem Tod, daß sich noch Blutergüsse hatten bilden können.
    »Wir haben es gesehen«, sagte Jakli unter Tränen. »Sie muß furchtbare Schmerzen erlitten haben.« Sie schlug die Hand vor den Mund und wandte sich ab. »Aber sie hat bestimmt nicht geredet. Sie war stark.«
    Shan nickte. Zwar hatte er Lau nicht gekannt, aber er wußte, wie solche Verhöre abliefen. Es fing mit einem Bein an, und wenn das Opfer dann noch nicht redete, ertrug es zumeist auch die Folter an dem zweiten Bein. Eilig bedeckte er die Wunden wieder, trat an Laus Seite und schob langsam den rechten Ärmel ihres Gewands hoch. In der Beuge ihres leblosen Arms befand sich ein weiterer Striemen und darunter ein winziger roter Punkt.
    »Das habe ich auch entdeckt«, sagte Jakli über seine Schulter hinweg. »Bloß ein blauer Fleck, sonst nichts.« Ihre Stimme zitterte. Sie wußte, was diese Verletzung zu bedeuten hatte.
    Jowa kam näher und warf einen Blick auf den Arm. »Eine Injektion«, stellte er lakonisch fest. »Als die Schläge nicht das gewünschte Resultat brachten, hat man ihr etwas gespritzt.« Der purba und Shan sahen sich wissend an. Der Mörder kannte sich mit Verhörtechniken aus und hatte Zugang zu Drogen, wie sie sonst nur von der Regierung eingesetzt wurden. Also war Lau in gewisser Weise doch wegen ihres Besitzes ermordet worden. Man hatte sie gefoltert, um von ihr bestimmte Informationen zu erpressen.
    Nun stellte Lau für Shan ein noch größeres Rätsel dar als vor seinem Besuch. Er wandte sich zum Ausgang, zögerte dann und ging zu der linken Wand. Einer plötzlichen Regung folgend, drückte er dicht neben den anderen Spuren seine Handfläche in das Eis.
    »Weshalb hat sie ihren Sitz im Rat aufgegeben?« fragte er, während sich in seinen Fingern ein taubes Gefühl ausbreitete. Er zog die Hand zurück und betrachtete die Wand. Sein Abdruck war tiefer als die anderen.
    »Als wir das getan haben«, sagte Jakli und nickte in Richtung der Handabdrücke, »meinte Akzu, die Spuren könnten vielleicht mehrere Jahrhunderte zu sehen bleiben, falls das Eis nicht in Bewegung gerät. Das wäre dann der einzige Hinweis darauf, daß wir überhaupt je existiert haben.« Sie sah die Abdrücke an und legte ihre Hand nahe der Mitte in eine der Vertiefungen, als wolle sie sich vergewissern, daß diese auch wirklich von ihr stammte. »Nur eine kleine leere Einbuchtung im Eis einer dunklen Höhle auf einem vergessenen Berg.«
    Shan war überrascht. Er drehte sich zu Jakli um, doch sie starrte beharrlich auf die Wand. »Ich habe Tante Lau am Bach gewaschen«, flüsterte sie. »Ich muß immer noch daran denken, unter welch schrecklichen Schmerzen sie gestorben ist.« Sie preßte ihre Hand fester ins Eis, als wolle sie die leere Einbuchtung noch vergrößern. »Lau ist aus irgendeinem Grund in Ungnade gefallen.« Sie flüsterte auch weiterhin, als wolle sie nicht, daß die Tote sie hörte. »Vor vier Monaten sagte jemand, sie käme nicht länger für dieses Amt in Frage.«
    »Jemand?«
    Sie zuckte die Achseln. »Die Regeln ändern sich andauernd. Mittlerweile hat die Brigade viele Funktionen der früheren Räte übernommen.«
    »Aber hier ging es nicht um das Amt, sondern um Lau als Person, die angeblich nicht mehr befähigt war.«
    »Das ist lediglich eine Vermutung. Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Sie war einfach fort. Plötzlich kam jemand anders an ihrer Stelle zu den Sitzungen.«
    »Wer?«
    Jakli antwortete erst, nachdem sie den Eingang der größeren Kammer erreicht hatte. »Ko Yonghong«, seufzte sie. »Der Genosse Generaldirektor.«
    »Wurde Lau der genaue Grund mitgeteilt?«
    »Falls ja, hat sie niemandem etwas davon erzählt.«
    »Ist Ihnen der Zeitpunkt denn nicht merkwürdig vorgekommen?«
    Jakli schüttelte verwirrt den Kopf.
    »Nur wenig später hat Lau darum gebeten, hier oben bestattet zu werden«, rief Shan ihr ins Gedächtnis. »Als hätte sie erst dann angefangen, sich Sorgen zu machen. Was könnte die Ursache gewesen sein?«
    Jakli schaute zu der Toten zurück und biß sich auf die Unterlippe. Sie sah aus, als wolle sie Lau persönlich fragen. Dann drehte sie sich wieder zu Shan um. »Sie hat sich mit

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