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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Gipfel sehen, hinter denen sich Tibet erstreckte.
    Jakli bremste abrupt. »Es geht um den Lama, nicht wahr?« fragte sie und folgte seinem Blick. Dann hielt sie kurz inne. »Falls Sie möchten, kann ich eine andere Route wählen und Sie so dicht wie möglich an die tibetische Grenze bringen. Der Lama ist Ihr Freund. Lau kann warten.«
    Shan lächelte sie dankbar an und schüttelte den Kopf. »Ich werde zu Lau reisen. Deshalb hat er mich schließlich hergebeten.«
    Jaklis Blick war auf die schneebedeckten Gipfel gerichtet. »Als ich noch klein war, haben die Leute das Hochgebirge gemieden. Sie nannten es die Grenze zum Jenseits, als läge auf der anderen Seite eine völlig fremde Welt oder vielleicht auch einfach gar nichts mehr. Dann erfuhr ich, daß auf der anderen Seite die Welt meiner Mutter lag. Und jetzt.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Die Hochebene dort, wo die dropkas leben, ist eines der letzten freien Gebiete, jenseits der Reichweite des Bösen. Als würde jenseits das gleiche wie sicher bedeuten. Häufig ist es der einzige Ort, an dem ich sein möchte.« Sie schwieg für einen Moment, legte dann wieder einen Gang ein und fuhr weiter.
    »Die Grenze zum Jenseits.« Shan wiederholte die Worte wie ein Gebet. Es stimmte. Gendun befand sich, wie so oft, an der Grenze zum Jenseits.
    Eine Viertelstunde später deutete Jakli auf eine Baumgruppe an einer Biegung des Wasserlaufs, beugte sich gespannt vor und hielt dann den Lastwagen im Schatten einiger Pappeln an. In der Nähe des Ufers stand ein kleines Blockhaus, eine winzige fensterlose Hütte mit schmaler Veranda und einer einzelnen Brettertür.
    »Das hier war ursprünglich eine Unterkunft für die Hirten, wenn im Sommer die Hochweiden grün sind«, erklärte Jakli, während sie ausstiegen. »Einer von Tante Laus Lieblingsplätzen.«
    »Hat sie hier gewohnt?«
    »Manchmal. Ihre eigentliche Unterkunft war seit vielen Jahren ein Zimmer in Yutian, im Wohnheim für alleinstehende Lehrkräfte. Offiziell hat sie dort gewohnt. Aber wenn es warm war, kam sie her. Die Herden sind mittlerweile so klein, daß die Weiden in dieser Gegend gar nicht mehr benutzt werden. Das hier war für sie ein Zufluchtsort. Ihr erster Besuch liegt schon einige Jahre zurück. Damals hat sie Medikamente für eine kranke Schafherde gebracht. Sie kam immer wieder. Die Stelle kann von der Straße aus per Auto oder Lastwagen erreicht werden. Andererseits ist es hier so ruhig, daß man trotzdem glaubt, sich in einer ganz anderen Welt zu befinden.«
    Shan bemerkte, wie warmherzig Jakli die Hütte und die dahinter gelegene Wiese ansah, die von Heidekraut und Astern in strahlende Herbstfarben getaucht wurde, während am Rand purpurrote Rhododendren blühten. Der Ort glich einer Oase mitten im Hochgebirge, und da der langgestreckte schützende Hang in seinem Rücken nach Süden wies, sammelten sich hier mehr Wärme und Wasser als in der umliegenden Landschaft. »Auch für Sie besitzt dieser Platz eine besondere Bedeutung«, stellte Shan fest.
    Jakli nickte. »Tante Lau hat mir hier ziemlich viel beigebracht.«
    »Über Tiere?«
    »Über Tiere. Über die Natur. Über Medizin. Über Menschen. Über die Sterne. Sie war auf allen Gebieten bewandert, floß praktisch über vor Wissen. Jemanden wie sie hatte ich noch nie getroffen. Jeder, alle Kasachen und Uiguren haben sie geliebt. Sie war mit niemandem verwandt und dennoch jedermanns Tante. Deshalb wurde sie ja in den Landwirtschaftsrat gewählt.«
    »Hat sie gelegentlich die zheli hierhin mitgenommen?«
    Die junge Frau nickte erneut. »Mehrmals im Jahr. Darunter auch zu einigen Verehrungstagen. So hat sie diese Anlässe genannt.«
    »Verehrungstage?«
    »Eine Art ganztägige Meditation. Jedes der Kinder durfte sich einer eigenen stillen Beschäftigung widmen. Manche haben Bilder gemalt, andere Briefe geschrieben und wiederum andere einfach nur die Blumen betrachtet.«
    »Was hat Khitai gemacht?«
    Jakli mußte kurz überlegen. »Beim letztenmal bin ich am Ende des Tages hergekommen. Ich glaube, er ist den Pfad fast bis nach oben hinaufgestiegen. Ja, jetzt weiß ich wieder. Er hat sich auf einen Vorsprung gesetzt.« Sie deutete auf eine Felsplatte, die waagerecht aus der Flanke des Hügels ragte. »Wie ein alter Ziegenbock, der den Blick über die Berge schweifen läßt. Nicht überheblich, sondern einfach nur in die Schönheit versunken.«
    Shan sah zu dem leeren Vorsprung. Saß Khitai heute auf irgendeinem anderen Felsen und hielt Ausschau? Wußte

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