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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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er überhaupt, daß ein Mörder umging? Hatte Malik ihn gefunden? Schaudernd wurde Shan klar, daß Malik durch seine Suche nach der zheli leicht selbst in Lebensgefahr geraten konnte.
    Jakli trat auf die schmale Veranda der Hütte. »Wenn Tante Lau hier war, wurde dieser Ort fast so etwas wie ein Schrein.«
    »Ein Schrein?«
    »Eine Moschee. Ein Tempel. Ein religiöser Ort, mehr will ich damit gar nicht sagen. Man fühlte sich irgendwie zu großen Gedanken veranlaßt, nur Tante Lau zuliebe.« Jakli öffnete den hölzernen Schnappriegel der Tür und führte Shan hinein.
    Im Innern sah es tatsächlich so karg wie in einem Tempel aus. Das Mobiliar bestand aus einem kleinen Tisch, einem Stuhl, zwei Bänken und einem Bettgestell aus grob gezimmertem Holz. Die Wände hatte man aus unbearbeiteten Baumstämmen errichtet, von denen viele noch ihre Rinde besaßen. Auf dem Stuhl stand eine Blechschüssel mit zwei Tassen, und auf dem Bett lag eine zusammengefaltete Filzdecke. Mitten auf dem Tisch entdeckte Shan einen einzelnen Kiefernzapfen.
    An einer der Wände hing ein dickes Stück Papier. Shan trat näher. Auf das Blatt hatte jemand mit Pinsel und Tusche zwei fließende chinesische Ideogramme aufgemalt. Das obere Symbol stellte mit schwungvollen Linien einen Vogel dar, der sich in den Himmel erhob. Das untere Bild zeigte zwei Hände, die um ein einzelnes Objekt rangen. Die gemeinsame Bedeutung war Streite nicht und ging auf das achte Kapitel des Taoteking zurück, jenes bedeutendsten aller Lehrbücher des Tao, das Shan schon seit seiner Kindheit kannte. Der Anblick der Schriftzeichen weckte bei ihm wehmütige Erinnerungen, denn dies war der Lieblingsvers seines Vaters gewesen. Shan wußte noch genau, wie die Passage lautete:
    Höchste Güte ist wie Wasser, das allen Dingen nützt und mit keinem streitet.
    Es füllt das Niedrige, das andere verachten, und ist daher dem Weg zur Wahrhaftigkeit nahe.
    Der Vers diente zur Verdeutlichung der Lektion, daß ein erleuchteter Mensch Zufriedenheit nicht etwa durch Widerstand und Streit erlangte, sondern durch den Aufenthalt an einsamen, stillen Orten. Nicht nur Wasser, auch die Wahrheit ließ sich dort nämlich mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit finden. Manchmal wurden die letzten Worte des Textes auch als »Weg zum Leben« übersetzt. Wahrhaftigkeit oder Leben. Shan schaute erneut auf die Ideogramme. Womöglich hatte für Lau kaum ein Unterschied zwischen diesen beiden Auslegungen bestanden.
    Er berührte das Papier mit den Fingerspitzen und zog die Hand dann schnell wieder weg, als würde er Lau zu nahe treten.
    »So war sie«, erklärte Jakli hinter ihm.
    Er drehte sich um und nickte. »Etwas ist mir noch nicht ganz klar«, sagte Shan, während Jakli den kleinen Raum abschritt und die Einrichtungsgegenstände betrachtete. »Gestern, bei unserem ersten Zusammentreffen, hat Akzu zu Ihnen gesagt, Sie würden Lau nichts schuldig sein, nach allem, was sie Ihnen angetan habe.«
    Jakli stand auf der anderen Seite des Tisches. »Das habe ich nie begriffen. Vermutlich irgendein Mißverständnis. Ich war damals in einem Umerziehungslager. Lau hat der Anklägerin einen Brief geschrieben und darum gebeten, mich nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt freizulassen. Statt dessen sollte ich eine Bewährungsstrafe in der Fabrik in Yutian verbüßen, die speziell für ehemalige Häftlinge vorgesehen ist. Die Hutfabrik. Als man mir sagte, weshalb ich nicht zum Clan zurückkehren durfte, konnte ich es erst nicht glauben. Aber dann habe ich Laus Brief mit eigenen Augen gesehen.« Jakli setzte sich und schloß die Hände um den Kiefernzapfen. »Ist schon in Ordnung«, sagte sie mit verwirrtem Unterton, als wäre der Zapfen eine Art Fokus, um Lau zu erreichen. »Es war bestimmt keine Absicht, da bin ich sicher. Sie ist in der letzten Zeit ziemlich nervös gewesen.«
    Shan hörte, daß hinter ihm jemand die Hütte betrat. »Es gibt keine Spur von ihr. Nichts deutet auf sie hin«, sagte Jowa über Shans Schulter hinweg.
    »Vielleicht ist gerade das ihr Kennzeichen«, schlug Shan vor und blickte zu dem Papier an der Wand. »Die Einfachheit.«
    Jakli führte sie zu einem Pfad am hinteren Ende der Wiese. Als sie im Gebüsch verschwand, blieb Lokesh unmittelbar vor Shan stehen. Am Rand der Waldung war ein kleiner Wasserfall zu sehen. Vögel zwitscherten. »Das ist genau der Ort, an dem die Seele eines Jungen verweilen würde«, sagte Lokesh seufzend, um Shan im nächsten Moment auf einen großen Käfer

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