Das Auge von Tibet
kniete an der Seite der Toten nieder, zog einen Zweig Heidekraut aus der Tasche und legte ihn neben die Leiche.
»Ich habe sie in ihrem ersten Sommer hier kennengelernt. Damals war ich noch ein kleines Mädchen von acht oder neun Jahren. Mein Pferd hatte Leibschmerzen. Ich hörte, in einem der Hirtenlager sei eine Heilerin aufgetaucht, also wollte ich mein Pferd zu ihr bringen. Aber nach drei oder vier Stunden konnte der Hengst nicht mehr weiter. Er stöhnte laut und blieb stehen, schwach und voller Schmerzen. Ich setzte mich und machte ein Feuer, und auf einmal war Tante Lau da. Sie sagte, sie hätte den Ruf eines kranken Tieres vernommen. Aber sie wollte ihm keine Medizin geben, wenigstens nicht sofort. Statt dessen hat sie mir Fragen über mein Pferd gestellt.
Wie lange wir uns denn schon kennen würden, wo er geboren worden sei und wie er sich verhalte, wenn es regnete. Dann berührte sie den Hengst an mehreren Stellen und sprach mit ihm. Schließlich mischte sie einige Kräuter und wies mich an, über Nacht dort zu bleiben und ihm Lieder vorzusingen. Am Morgen ging es ihm schon viel besser. Er fühlte sich sogar so stark, daß er den ganzen Weg nach Hause laufen wollte.«
Lokesh setzte sich neben die Felsplatte und nickte Jakli zu, als wolle er sie ermuntern, mit ihrem Bericht fortzufahren.
»Als ich einem meiner Cousins davon erzählte, behauptete er, sie sei bestimmt eine Art Zauberin«, erinnerte Jakli sich. »Aber ich sagte, sie würde viel zuviel lachen, um eine Zauberin zu sein. Danach habe ich sie noch oft wiedergesehen, häufig völlig unerwartet, in den Bergen, in der Wüste, wo auch immer. Einmal verarztete sie ein kleines Eichhörnchen, das aus den Fängen einer Eule gefallen war. Sie sagte, es sei zwar ihre Pflicht, jedem zu helfen, der verletzt oder krank war, aber vor allem müsse ein Heiler sich um die Kleinsten und Schwächsten kümmern.«
»Sie sagen, Lau sei plötzlich in dieser Gegend aufgetaucht. Wie meinen Sie das?« fragte Shan.
»Tante Lau gehörte zu den Heimatlosen. Auch ihre Familie war verlorengegangen. Sie sah sich als eine Art Wanderheilerin. Wir waren alle sehr froh, als sie beschloß, im Bezirk Yutian zu bleiben.«
Laus schwarzes, von einigen grauen Strähnen durchzogenes Haar war mit dunkelrotem Band zu zwei kurzen Zöpfen geflochten. Eine Blumenstickerei schmückte die Säume ihres langen grauen Gewands, und ihre Beine steckten in roten Wollgamaschen, die bis über den Rand der kleinen, abgetragenen Lederstiefel reichten. Der Kopf der Lehrerin wurde zum größten Teil von einem roten, mit Blumen und springenden Rehen bestickten Tuch umhüllt, so daß nur das Gesicht frei blieb.
»Wie weit entfernt liegt der Ort, an dem sie ermordet wurde?« fragte Shan.
»Karatschuk? In der Wüste, viele Meilen von hier. Man hat ihre Leiche erst per Pferd und dann auf einem Lastwagen hergebracht. Die Reise hat einen halben Tag gedauert.«
»Waren Sie selbst dabei?«
Jakli nickte. »Zumindest am Schluß. Die Maos sind in die Fabrik gekommen und haben es mir erzählt. Später haben wir uns unten an der Straße getroffen.«
»Demnach waren die Maos in Karatschuk, als Lau ums Leben kam?«
»Nein. Das waren andere Leute, und die haben es dann den Maos berichtet.« Jakli hielt seinem fragenden Blick kühl und entschlossen stand. Es gab Geheimnisse, die sie nicht preisgeben wollte.
»Und sie hat Ihnen erzählt, sie wolle hier bestattet werden? Ist diese Art von Begräbnis typisch für die Kasachen?«
»Nein. Aber Lau hatte gewisse Vorstellungen. Ich meine, sie hat ein selbstbestimmtes Leben geführt und dabei auch an ihren Tod gedacht. Sie wollte in diese Höhle oberhalb der Hütte gebracht werden.«
»Wen hat sie darum gebeten?« fragte Shan.
»Ihre Freunde. Vor etwa drei Monaten hat sie ihren Freunden erzählt, man möge sie herbringen.«
Die Kälte hatte den Körper erstaunlich gut erhalten. Das konnte durchaus noch monatelang so bleiben, dachte Shan. »Das ist nicht wenig verlangt.«
Jakli sah Lau an und lächelte traurig. »Es war überhaupt nicht der Rede wert.«
»Aber nach ihrer Schilderung zu schließen, war Lau nicht die Art von Person, die ihren Freunden etwas aufbürden würde.«
Jakli runzelte die Stirn, als versuche sie, Shans Argumentation nachzuvollziehen. »Lau würde nur einmal sterben«, erwiderte sie zögernd.
Aber warum diese Höhle? fragte Shan sich. Es war, als habe die Höhle selbst etwas zu bedeuten. Hausten hier Dämonen? Oder fürchteten die Dämonen sich
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