Das Auge von Tibet
aus etwa drei Metern Entfernung.
»Mit Hilfe der Helikopter dürfte es sich nicht ganz so schwierig gestalten«, entgegnete Sui. Sein höhnisches Grinsen gab den Blick auf zwei Reihen gelber Zähne frei.
»Chinesen haben keine Ahnung von Pferden«, protestierte Akzu. Die Zügel glitten ihm aus der Hand und fielen zu Boden. Mit geballten Fäusten kam er näher.
»Die Verwertung brachliegender landwirtschaftlicher Ressourcen gehört seit jeher zu den politischen Leitlinien der Volksregierung«, ertönte eine eisige Stimme hinter Akzu. Die Anklägerin kam auf sie zu, unmittelbar gefolgt von ihrem drohend aufragenden Fahrer.
Akzus Schultern sackten herab, und seine Brust sank ein, als hätte ihm jemand einen Dolch in den Rücken gestoßen. Er drehte sich nicht zu der Frau um, sondern blieb einfach stehen und starrte zu Boden.
Mit klopfendem Herzen spürte Shan, daß Jowas Körper sich anspannte, als würde der Tibeter sich im nächsten Augenblick auf den Kriecher stürzen wollen. Dann kam auf einmal Ko Yonghong an Xu Li vorbei und stellte sch wie zum Schutz neben Akzu. »Diese Leute wurden bereits in das Armutsprogramm aufgenommen, Genossin Anklägerin«, erklärte er entrüstet.
Xu schien ihn nicht zu hören. Sie hob eine Hand an die Stirn, woraufhin Sui vortrat, Lokesh und Shan mit zwei schnellen Bewegungen die Mützen vom Kopf schlug und dann wieder zurückwich, damit Xu die beiden besser erkennen konnte.
»Damit können aber nur die Kasachen gemeint sein, Genosse Direktor«, sagte sie zu Ko und stolzierte langsam näher. Der Fahrer folgte ihr direkt auf dem Fuß. Ihre kleinen schwarzen Augen richteten sich auf Jakli, die es nicht fertigzubringen schien, der Anklägerin ins Gesicht zu sehen. Dann betrachtete sie mürrisch Jowa und Lokesh. Xu haßte die Tibeter und hielt sie durchweg für Verräter, hatte Malik gesagt. Zuletzt fiel Xus Blick auf Shan.
Ko zog sich zurück, rief den Männern, die die Bestandsaufnahme durchführten, einige Anweisungen zu, und trat schwungvoll gegen einen Kiesel. Der Stein landete in der Nähe des Mechanikers, der mit desinteressierter Miene dasaß und eine weitere Zigarette rauchte. Akzu verharrte reglos an Ort und Stelle und beobachtete stumm die Anklägerin.
Xu schritt vor den anderen auf und ab, behielt dabei vorerst Shan im Auge und bedeutete dann ihrem Fahrer, ihr zurück zu der Limousine zu folgen. Dort wechselten die beiden leise einige Worte. Danach eilte der Mann zu Sui und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Kriecher runzelte die Stirn und wich langsam und mißtrauisch zurück, ohne die kleine Gruppe aus den Augen zu lassen, als rechne er mit einem Hinterhalt. »Die Volksregierung weiß Ihre Mitarbeit zu schätzen«, sagte Xus Fahrer mit öliger Stimme und wies einladend auf den Schildkrötenlaster. Jakli hob die Mützen vom Boden auf und schob Lokesh in Richtung des Wagens, während Jowa und Shan bereits auf die Rückbank stiegen.
Als der Motor dröhnend zum Leben erwachte, ging Ko zu Akzu, legte ihm einen Arm um die Schultern und führte ihn zurück zu seinem Pferd. Jakli wartete, bis ihr Onkel hinter dem Haus verschwunden war. Dann legte sie den Gang ein und beschleunigte vorbei an den Pappeln, die beiderseits der Zufahrt standen. Shan verfolgte im Außenspiegel, wie das Gebäude außer Sicht verschwand. Dann merkte er, daß Jakli ihn ansah. Sie wurden nicht verfolgt. Die Anklägerin und die Öffentliche Sicherheit waren eifrig darauf bedacht, das Lager Volksruhm mit Insassen zu füllen, und dennoch hatte man sie ziehen lassen.
Sie fuhren mehr als eine Stunde und nahmen unterwegs zweimal Umwege durch ausgetrocknete Flußbetten in Kauf, um Kontrollpunkten auszuweichen. Als ein Schild verkündete, bis Yutian seien es noch acht Kilometer, verringerte Jakli das Tempo und konzentrierte sich auf die Weidenbäume entlang der Straße. Sie blieb beinahe stehen, vergewisserte sich, daß kein anderes Fahrzeug in der Nähe war, und bog plötzlich in eine Öffnung zwischen den Bäumen ein. Die folgende Strecke glich eher einem breiten Trampelpfad als einer Straße, so daß der robuste kleine Lastwagen sich schaukelnd und ächzend durch eine Reihe von Furchen und Schlaglöchern kämpfen mußte, denen ein leistungsschwächeres Gefährt nicht gewachsen gewesen wäre. Nach einigen Minuten stieß der Pfad auf einen von Süden heranfließenden schmalen Bach und folgte dessen Verlauf in Richtung der Berge. Das Kunlun-Gebirge lag nun in voller Pracht vor ihnen. Shan konnte die hohen
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