Das Auge von Tibet
gar vor diesem Ort? Langsam umrundete er den Felssockel und musterte die lote Frau. »Wenn sie eine Außenseiterin war und keine Papiere besaß, um hier arbeiten zu dürfen, wie konnte sie dann in den Rat gewählt werden?«
Jakli zuckte die Achseln. »Bestimmt wurde sie überprüft. Sie war Kasachin, und die Hirten haben sie geliebt. Wie ich schon sagte, sie war jedermanns Tante. Und es ging ja nur um den Landwirtschaftsrat, der eigentlich gar keinen wirklichen Einfluß hat.«
»Aber was war mit den Behörden? Man würde doch auf jeden Fall auch die Vorgeschichte einer solch unbedeutenden Amtsträgerin gründlich durchleuchten.«
Shan sah Jakli an, daß sie ihn verstand. Laus Familie konnte auf die verschiedensten Arten und aus den unterschiedlichsten Gründen verlorengegangen sein. Falls man sie inhaftiert, offiziell aufgelöst oder hingerichtet hatte, galten alle Mitglieder in den Augen des Staates automatisch als schädliche Elemente, denen das Privileg eines öffentlichen Amts verweigert bleiben würde, auch wenn es sich lediglich um einen Posten in einem bescheidenen Landwirtschaftsrat handelte. Er erinnerte sich an die Vermutung, die Akzu zu Beginn ihrer Bekanntschaft geäußert hatte. Der Dämon wolle zu Ende bringen, was er mit den Eltern der zheli begonnen habe. Lau hatte ebenfalls einem verlorenen Clan angehört. Womöglich verband die Opfer ein Geheimnis aus der Vergangenheit. Die Unterwerfung der Kasachen und Uiguren durch die Volksbefreiungsarmee lag einige Jahrzehnte zurück.
»Sie wurde rehabilitiert. Die Leute wollten sie. Heutzutage sind die Behörden etwas nachsichtiger.« Bei diesem letzten Satz klang Jakli wenig überzeugend. Sie starrte die Eisschicht an, die den größten Teil der Wand hinter Tante Lau bedeckte.
Shan kniete sich neben Lokesh vor den Kopf der Frau. Der Schein der Fackel ließ ihr bleiches Gesicht orangerot erglühen, wodurch sie nur noch mehr wie eine Schlafende aussah. Es schien, als könne sie jeden Moment aufschrecken und sich über die Ruhestörung beklagen.
»Wir mußten die Leute in dem Glauben lassen, es habe sich ein Unfall ereignet«, sagte Jakli. »Es war schließlich irgendeine Erklärung nötig. Wir konnten nicht einfach ihre Ermordung melden und so die Aufmerksamkeit der Behörden wecken.«
Shan blickte auf. Es war, als habe Jakli nur auf die Gelegenheit für eine Erklärung gewartet, um Laus Geheimnis zu lüften.
»Ein Reitunfall«, fuhr Jakli fort und sah nun die Tote an. »Wir haben dafür gesorgt, daß man dein.« Sie hielt inne und atmete tief durch. »...daß man ihr Pferd an der Straße entlang des Yutian-Flusses finden würde. Am nächsten Tag hat jemand von der Schule sie als vermißt gemeldet. Als ehemalige Angehörige des Rats besaß sie eine Jacke, auf der ihr Name stand. Fat Mao hat diese Jacke in den Fluß geworfen, und eine Frau hat das Kleidungsstück dann in der Nähe der Stadt aus dem Wasser gefischt.«
Langsam und so ehrfurchtsvoll wie möglich hob Shan das Tuch auf Laus Stirn an. Direkt unterhalb des Haaransatzes gähnte ein Loch von fast einem Zentimeter Durchmesser. Mit Hilfe der Taschenlampe entdeckte er die dunklen Schmauchspuren rund um die Wunde. Die Frau war aus unmittelbarer Nähe erschossen worden, wie bei einer Exekution.
»Meinen Sie, es wird weiter wachsen?« fragte Jakli. Sie starrte wieder das Eis an. »Vielleicht bedeckt es Lau und schließt sie ein. Auf diese Weise könnte sie eine lange Zeit überdauern. Tausende von Jahren.«
Shan stand auf, neigte demütig den Kopf und sah Jowa am Eingang stehen. Der Widerstandskämpfer hatte sich nicht in die Kammer vorgewagt, als wolle er lieber Wache halten. Oder als habe er Angst.
An der Wand, die in leichtem Bogen nach links in Richtung des Zugangs verlief, bemerkte Shan dunkle Konturen im Eis. Er richtete seine Taschenlampe darauf und sah, daß es sich um Abdrücke handelte. Mehr als ein Dutzend Menschen hatten hier ihre Hände in das Eis gedrückt und dabei wie zum Abschied ihre Spuren hinterlassen.
Ein Grab aus Eis, dachte Shan. Das Tor zu den kalten Höllen. Wie hatte Tante Laus letzte Hölle wohl ausgesehen? Sie war nicht zufällig ermordet worden. Hinter ihrem Tod steckte eine Absicht. Aber welche?
Er überlegte laut. »Wurde Lau vielleicht etwas abgenommen?«
»Sie hat fast nichts besessen«, sagte Jakli. »Die Brigadeschule hat ihr eine Unterkunft und ein Büro zur Verfügung gestellt.«
Shan trat an das Ende des Felssockels und kniete sich hin. »Bei den
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