Das Babylon-Virus
vorkamen.
Sie hätte sich genauso gut auf dem Mond oder auf dem Mars befinden können, doch in Wahrheit war es einfach nur der dritte Kontinent in dreieinhalb Tagen: Südamerika, Europa, Asien.
Afghanistan, das Land, das im Grunde gar kein Land war, entstanden aus den Planspielen der Großmächte heraus. Unterschiedliche Völker, Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, zusammengesperrt in den Grenzen eines einzigen Staates, der wegen seiner geographischen Lage zu wichtig war, um ihn
einfach nur sich selbst zu überlassen. Ein Zankapfel der Weltpolitik, so lange er überhaupt existierte. Alle hatten sie sich blutige Köpfe geholt, die jemals geglaubt hatten, dieses Land dauerhaft unterwerfen zu können: von den alten Persern und dem großen Alexander über die Mongolen bis zu den Sowjets in den neunzehnhundertachtziger Jahren. Die internationale Allianz war gerade noch dabei, ihren Krieg zu verlieren, der dem Terror der Taliban ein Ende gesetzt und an dessen Stelle ein Vakuum hinterlassen hätte. Ein fragiles Gleichgewicht des Jeder-gegen-Jeden, eine Unsicherheit, Unbestimmtheit und Leere, die wie ein Spiegel der Wüstenlandschaft erschien, ewig eintönig und gleich und doch flüchtig und veränderlich mit jedem neuen Tag.
Rebecca kniff die Augen zusammen: Die schroffe Silhouette einer Bergkette beherrschte den gesamten Horizont, die Gipfel schon mit Schnee bedeckt. Rauer Wind fuhr ihr entgegen. Ein passender Empfang, dachte sie fröstelnd.
Doch sie riss sich zusammen. Alyssas Wundermittel wirkte, und sie sollte verdammt froh darüber sein. Auch ihr Bein machte keine Probleme, als sie bis an den Fuß der Gangway kletterte, wo ihre Begleiter auf sie warteten.
»Können wir?« Alyssas Gesicht war ausdruckslos wie immer. Ist sie wirklich schon immer so gewesen?, überlegte Rebecca. Schon damals, als sie in Südamerika auf Seiten der Rebellen gekämpft hatte, bis zu dem Tag, an dem sie beschloss, sich beruflich zu verändern ? Vergeblich suchte Rebecca nach der anderen Alyssa, nach dem kleinen Mädchen, das von allen verwöhnt worden war in der Zuflucht der Rebellen - nicht zuletzt von ihr, Rebecca, selbst. Alyssa war fünf Jahre jünger als sie. Eine Ewigkeit, wenn man ein Kind war.
»Ich glaube, da hat uns schon jemand entdeckt«, murmelte Fabio Niccolosi. Der Junge war blass um die Nase,
darüber konnte auch die veränderte Sonneneinstrahlung nicht hinwegtäuschen. Er hatte sich tapfer gehalten während des Fluges, doch musste er sich wirklich in allem seinen capo zum Vorbild nehmen? Sogar bei der Flugangst?
Rebecca folgte seiner Blickrichtung. Eine Art gigantische Barackensiedlung, zwei- oder dreihundert Meter entfernt. Das musste Camp Marmal sein, das Hauptquartier der ISAF für den gesamten Norden Afghanistans. Die deutschen Soldaten, die gemeinsam mit ihnen angekommen waren, trotteten den Unterkünften entgegen wie eine Herde Schafe auf dem Weg zur Futterkrippe. Von Gleichschritt hätte das nicht weiter entfernt sein können.
Auf einer Asphaltpiste kam der Kolonne ein Militärjeep entgegen, jagte an ihr vorbei, hielt mit hohem Tempo auf Rebecca und ihre Begleiter zu, wobei er eine Staubfontäne hinter sich herzog. Automatisch wanderte Rebeccas Hand zu ihrer Hüfte. Ihr Mundwinkel zuckte, als sie sah, dass Alyssa synchron dieselbe Bewegung ausführte.
»Wer immer das ist«, sagte die blonde Frau leise. »Kein Wort über die Babylontexte. Niemand im Camp weiß davon, und es soll auch niemand davon erfahren, solange wir selbst nicht alles wissen.«
Wenige Meter vor ihnen bremste das Fahrzeug ab, in einer neuen, noch weit mächtigeren Staubwolke. Rebecca hatte nur einen kurzen Blick auf den Fahrer werfen können - kurzgeschorene Haare, sonnenverbrannter Stiernacken, randlose Brille -, aber fahren konnte der Mann: Kein Staubkorn erreichte die Gruppe an der Gangway.
Alyssa musste den Fahrer erkannt haben. Sie war einen Schritt vorgetreten, deutete einen militärischen Gruß an. Offenbar nahm der Mann am Steuer einen höheren Dienstgrad ein als sie.
Der Uniformierte nickte ihr knapp zu, durch den Staubschleier
nur schemenhaft zu erkennen, und stieg in derselben Bewegung aus dem Fahrzeug.
»Sie sind wieder hier«, stellte er fest, doch seine Augen waren schon weitergewandert, zu Rebecca, zu Fabio.
»Meine Schwester«, sagte Alyssa. »Rebecca Steinmann. Und unser Begleiter, Fabio Niccolosi. - Oberst Merthes.«
»Johannes Merthes, Regionalkommando Nord, International Security Assistance Force .« Kurz und knapp,
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