Das Babylon-Virus
drangen gedämpfte Hornsignale von Schiffen draußen auf der Themse. Über den klaren Himmel schien sich ein undeutlicher Vorhang gelegt zu haben, ein Dunst, der dichter wurde, wenn Amadeo nach rechts sah, auf die City of London hin.
Ruckartig stand der Bassist von seinem Hocker auf. »Haben Sie ein Fahrzeug? Wir sollten einen Ausflug auf uns nehmen.«
Mile End, London, England
»Good god!« Mit aufgerissenen Augen starrte Styx aus dem Beifahrerfenster. Amadeo konnte kaum auf ihn achten - er hatte mehr als genug damit zu tun, den Leihwagen durch das Chaos zu steuern, das auf Londons Straßen ausgebrochen war.
»Blutige Hölle, was ist hier im Gange?«, flüsterte der Bassist, halb an Duarte gewandt, der mit finsterer Miene auf der Rückbank saß. Doch der commandante antwortete nicht. Er hatte kein Wort gesprochen, seitdem sie ihn aus dem Aufnahmeraum befreit hatten.
»Die Grippe«, beantwortete Amadeo die Frage. »Sie sind lange nicht aus Ihrem Studio rausgekommen, nehme ich an?«
»Seit der Mitte vom Oktober. Wir haben genächtigt in der Halle sogar. Wir haben einen Kontrakt zu erfüllen über
unseren neuen Album, und es ist nicht möglich, zu arbeiten, wenn die Fans einmal erfahren haben, wo wir produzieren. Wir wagen nicht, die Straße zu betreten. Und nun gewiss nicht, wie es schaut.« Styx zog die Nase kraus. »Ich kann das Feuer erschnuppern.«
Da muss man nicht lange schnuppern, dachte Amadeo. Wie schmutziger Nebel lag ein grauer Schleier in den Straßen, derselbe vermeintliche Dunst, den er durch die Studiofenster gesehen hatte. Doch es war kein Dunst. Der stechende Geruch bewies es, der durch die Lüftung des Fahrzeugs drang, die Gesichter der Menschen, die mit ängstlichen Schritten auf den Gehwegen hin und her liefen wie aufgescheuchte Hühner. Sie pressten sich Tücher oder Kleidungsstücke vor die Gesichter, ob gegen den beißenden Qualm oder aus Furcht vor dem ungreifbaren Atem der Krankheit, die London erfasst hatte. Und über all dem kreischten grelle Sirenen, an- und abschwellend, von überall her, besonders aber aus Richtung City, wohin der Restaurator den Wagen auf Styx’ Geheiß steuerte.
Amadeo musste an Weimar denken, an den vollständigen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, und er mochte sich nicht vorstellen, wie es hier aussehen würde, wenn die Nacht über die Stadt an der Themse hereinbrach. Er warf einen Blick auf die Digitalziffern der im Armaturenbrett eingelassenen Uhr: kurz vor halb drei. Noch zwei, drei Stunden Tageslicht.
Auf einer Konsole knapp unterhalb lag sein neues Handy. An Bord der Messerschmitt hatte ihn Rebeccas erste SMS erreicht. Halb drei. Irgendwann in diesen Minuten musste die Transall die ISAF-Basis erreichen, vielleicht nur wenige Kilometer entfernt von dem Ort, an dem unter Millionen Tonnen von Wüstensand das Geheimnis der Babylonier schlummerte.
»Sie sind tollkühne Männer«, sagte der Bassist nachdenklich. »Wenn Sie in diesen Tagen in die Stadt kommen wegen einer alten Komposition.«
Amadeo sah starr geradeaus. Tollkühn. Er hätte ein anderes Adjektiv gewählt. Verzweifelt vielleicht.
»Bangen Sie nicht, Sie könnten angesteckt werden?«
»Nein«, brummte der Restaurator wortkarg. Die Nervosität in Styx’ Stimme gefiel ihm nicht. Er brauchte den Mann, gerade jetzt, da der Bassist offenbar bereits eine Vermutung hatte, oder zumindest eine Ahnung. Vor ihrem Aufbruch aus dem Studio war Styx noch einmal kurz in einem Nebenraum verschwunden und mit einem Gitarrenkoffer zurückgekehrt. Eine Gitarre, dachte Amadeo. Eine Gitarre war leichter zu transportieren als ein Konzertflügel, doch für einen geübten Musiker sollte sich Händels Komposition damit ebenso detailliert nachvollziehen lassen wie mit Klavier oder Cembalo.
Ein Knall zerriss die Luft. Schüsse. Styx zuckte zusammen. Wie in Weimar, dachte Amadeo grimmig. Sein Blick ging kurz in eine Seitenstraße. Nein, auch die qualmenden Mülltonnen fehlten nicht, und ein paar Schritte entfernt drängte sich der Mob vor den Schaufenstern eines Shops. In der Ferne waren Blaulichter zu sehen, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Staatsgewalt die Waffen würde strecken müssen.
Im Rückspiegel fanden seine Augen den Blick des commandante . Duartes Rechte war in den Falten seiner Soutane verschwunden, und Amadeo wusste, was sie umklammert hielt.
Mit einem Fluch stieg er auf die Bremse. Eine Kreuzung, fünfzig Meter vor ihnen, fünf, sechs Fahrzeuge, die sich ineinander verkeilt hatten.
Weitere Kostenlose Bücher