Das Babylon-Virus
Gefangene sind wir offenbar nicht, dachte Rebecca. Die Metalltür der Baracke öffnete sich, noch bevor Merthes sie erreicht hatte. Zwei Männer in Tarnuniformen salutierten, traten beiseite, um ihn und seine Begleiter durchzulassen.
Hinter einem Schreibtisch saß eine Frau etwa in Rebeccas Alter, die ihnen über eine Halbbrille hinweg entgegensah. »Er wartet schon auf …« Vor dem letzten Wort fiel ihr Blick auf Rebecca und Fabio. Sie verschluckte sich. »… auf Sie«, vollendete sie schließlich.
Merthes stapfte an ihr vorbei zu einer Tür in der hintersten Ecke der Bürostube, klopfte an, kurz und militärisch.
»Ja, bitte, kommen Sie rein!« Die Stimme klang höflicher, als Rebecca erwartet hatte. Merthes öffnete, und ein weiterer Büroraum kam zum Vorschein, an den Wänden Regale und ein großer Monitor, der aber nicht eingeschaltet war. In der Mitte stand ein Schreibtisch, rechts und links die Fahnen der Bundesrepublik Deutschland und der Internationalen Schutztruppe.
»Ich bin gleich für Sie da.« Ein Mann mit Halbglatze, der ihnen den Rücken zudrehte. Er trug dieselbe Tarnfleckkleidung wie jeder im Camp, den Rebecca bisher zu Gesicht bekommen hatte - mit Ausnahme der Vorzimmerdame. »Das ist das erste Mal heute, dass ich mich mit den Jungs …« Der Uniformierte wandte sich um, und seine Stirn verwandelte sich in eine Ziehharmonika. »Frau Feldwebel?«
Alyssa salutierte. Die gleiche Vorstellungszeremonie wie mit Merthes an der Gangway. Rebecca hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie hatte das Namensschild auf dem Schreibtisch schon entdeckt, hielt es allerdings für überflüssig mitsamt seiner Aufschrift Brigadegeneral von Stoltenbeck . Der Name ihres Oberkommandierenden sollte den Soldaten vertraut sein.
Das also war der Mann, dem die Streitkräfte der internationalen Allianz im Norden des Landes unterstanden: klein, untersetzt - und kurzsichtig offenbar. Doch als er hinter seinem Schreibtisch hervortrat, musste Rebecca selbst blinzeln: Auf einer Art Anrichte stand ein Terrarium , in dem irgendwas
hin und her krabbelte, ohne dass Rebecca erkennen konnte, was für Tiere der General darin hielt. Nichts besonders Großes jedenfalls.
Stoltenbeck warf nur einen kurzen Blick auf die Dokumente, die Merthes ihm entgegenstreckte. Mit Sicherheit hatte auch er noch nie einen Ausweis des Vatikanstaats in der Hand gehabt, doch er trat auf Rebecca zu, schüttelte ihr die Hand und wiederholte dasselbe nach kurzem Zögern auch bei Fabio.
»Ich hatte kaum damit gerechnet, dass Sie überhaupt zurückkommen würden.« Seine Augen lagen auf Alyssa, und für eine Sekunde glomm ein Funke von Humor in ihnen auf. »Und jetzt bringen Sie sogar die Familie mit.«
»Wir sind nicht auf Vergnügungsreise«, gab Rebeccas Schwester kühl zurück. »Wie Sie gesehen haben, ist meine Schwester für eine befreundete Regierung tätig. Und wie Sie wissen, bin ich hier mit einem Vorgang befasst, der …«
Stoltenbeck winkte ab, schüttelte müde den Kopf. »Ich weiß, ich weiß. Sie haben alle meine Unterstützung, wenn es denn so fürchterlich wichtig ist. Alles, was ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt noch anbieten kann.«
»Sie haben Ausfälle durch die Grippe?«, fragte Rebecca.
Der General nickte. »Zu allem Übrigen auch das, obwohl es hier noch nicht so weit ist wie bei Ihnen in Europa. Ich habe Bilder aus London gesehen vorhin.« Stoltenbeck schüttelte den Kopf. »Aber im Grunde ist es dasselbe wie überall. Wenn ein bestimmter Punkt erreicht ist, sind die Leute nicht mehr ruhig zu halten.«
Und das ist natürlich sein Spezialgebiet, dachte Rebecca. Die Leute ruhig halten. Doch der General war anders, als sie ihn sich vorgestellt hätte, weniger barsch im Ton als sein Oberst, dessen Miene noch keine Spur freundlicher geworden war. Aber hätte Stoltenbeck nicht gewusst, wie man die
Truppe anpacken musste, hätte er es kaum zu seiner augenblicklichen Position gebracht. Galt Stoltenbeck nicht sogar als Falke , als besonderer Hardliner, Vertreter einer neuen Weltordnung unter Führung der Vereinigten Staaten und ihrer westlichen Verbündeten?
Rebecca beschloss, in Zukunft bei der Zeitungslektüre ein noch kritischeres Auge zu haben als sowieso schon. Besonders militaristisch wirkte der Mann jedenfalls nicht.
»Ich nehme an, wenn Sie wieder hier sind, sind Sie vorangekommen mit Ihren nachrichtendienstlichen Ermittlungen«, wandte der General sich an Alyssa.
Rebeccas Schwester trug nach wie vor ihr Pokerface. »Möglicherweise. -
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