Das Babylon-Virus
ein Zufall sein?«
Der Bassist nickte. »Es könnte, doch ich kann daran nicht glauben.« Er starrte auf die Partitur. »Weil da ist der Beginn, die Ouvertüre …«
»Mit den Zweiunddreißigsteln?«
»Mit den Zweiunddreißigsteln«, bestätigte Styx. »Doch die Zweiunddreißigstel spielen keine Rolle hier.« Er blätterte zurück an den Anfang, holte Luft und begann das Stück noch einmal zu spielen. Amadeo lauschte, hatte den Eindruck, dass der Bassist die Partitur diesmal um eine Winzigkeit
anders interpretierte, bestimmte Noten deutlicher betonte. Die Adern auf Styx’ Handrücken traten hervor, wenn er einzelne Tasten kräftiger anschlug, gleichzeitig die Pedale ins Spiel brachte. Fast als wollte er der Komposition einen seltsam stampfenden Rhythmus aufdrücken, der nicht recht in die Barockzeit passen wollte: zu natürlich , um den verfeinerten Geschmack der Epoche zu treffen.
»Es klingt irgendwie seltsam«, sagte Amadeo leise, als der Bassist mit verkniffener Miene seine Hände ausschüttelte und mit dem Daumen die Handflächen knetete. »Wie ein Stakkato«, überlegte Amadeo. »Oder, nein, nicht ganz …«
Styx seufzte. Die dunkle Mähne klebte ihm feucht an der Stirn, doch noch einmal griff er in die Tasten, diesmal ohne auf die Partitur zu blicken. »Sie kennen dieses hier?«
Seine Finger huschten über die Klaviatur, mit der traumwandlerischen Sicherheit, die ein Musiker nur bei einem Stück besitzen konnte, das er viele Male gespielt hatte. Bei Amadeo war das nicht der Fall, und er bezweifelte auch, dass es überhaupt eine Bearbeitung für die Mundharmonika gab, doch auch er kannte diese Musik!
»Das Stück ist Ihnen vertraut«, stellte der Bassist fest, als er die Finger von den Tasten löste. »Es wird gerufen The Harmonious Blacksmith , wegen der ständigen Wiederholung ein und derselben Note hier an dieser Stelle …« Noch einmal griff er einen kurzen Tastenlauf. »Man könnte glauben, dass es wäre ein Hammer, der niederfährt wieder und wieder mit diesem Ton.«
»In Deutschland spricht man vom harmonischen Hufschmied.« Amadeo versuchte sich zu erinnern, wie viele unterschiedliche Einspielungen des Stückes er besaß. Doch der Zusammenhang zu dem, was Styx vorher gespielt hatte, der Ouvertüre des Babylon-Oratoriums, wollte ihm nicht aufgehen. Er liebte Händels Musik, doch mittlerweile spürte er
ein vages Puckern hinter seiner Stirn, ein Klingeln und Pingeln, das eher nach Feueralarm als nach Hufschmied klang, drängend und warnend: Wir haben keine Zeit mehr.
»Ihnen wird die Ähnlichkeit nicht ausgefallen sein«, murmelte Styx. »Weil da sind gewaltige Unterschiede in der Melodie, aber es gibt Gemeinsamkeiten zwischen dem Hufschmied und der Ouvertüre von diesem oratory auf der anderen Hand. Ähnlichkeiten in der Art, wie er bestimmte Noten in den Vordergrund rückt schematikalisch.«
»Ein Schema«, murmelte Amadeo. »Genau danach suchen wir.« Er konnte nur hoffen, dass Rumpelstilzchen wusste, was es tat. Er selbst musste an dieser Stelle die Waffen strecken.
»Hier am Anfang ist ein solches Schema.« Styx nickte. »Aber es fehlt danach, bis zu der anderen Stelle, wenn es geht von Bukhara nach Samarkand. Dort könnte wieder ein Schema sein möglicherweise. Aber dieses Schema …« Er schüttelte den Kopf. »Dieses Schema ist anders.«
Auf Amadeos Unterarmen hatte sich eine Gänsehaut eingestellt. Sie waren Händel auf der Spur! »Stehen die beiden Systeme irgendwie miteinander in Zusammenhang?«, fragte er. »Bitte, Mr Styx, überlegen Sie genau. Dieser Zusammenhang könnte der Schlüssel sein!«
»Stevie«, korrigierte der Bassist, doch entschieden schüttelte er den Kopf. »Es ist eine andere Variation am Ende. Kurze Stellen lediglich, kurze Phrasen in der Melodie, wenn Sie so wollen, die sind vermischt in der Komposition.«
»Mehrere davon?«
»Ich habe gezählt fünf oder sechs, doch ich bin mir sicher, dass da sind noch mehr davon.«
Amadeo holte Luft. Seit Minuten schon hatte sich eine Idee in seinem Kopf eingenistet. »Könnte es sein, dass das Ganze - alles zusammen … dass man daraus eine bestimmte
Position konstruieren könnte? Die Koordinaten oder die Beschreibung eines bestimmten Ortes? Irgendetwas, wo sich Händel besonders gerne aufgehalten hat vielleicht?«
Schweigend blickte der Bassist auf das aufgeschlagene Brevier. Dachte er nach? Hatte er bereits eine Vermutung? Amadeo wagte nicht, ihn in seiner Konzentration zu stören.
Durch die deckenhohen Glasfenster
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