Das Babylon-Virus
Autotüren flogen auf, Menschen kletterten ins Freie, schwenkten drohend die Fäuste gegeneinander.
Auf den Gehsteigen Passanten mit Atemschutzmasken, kopflos in diese, in jene Richtung unterwegs. Die zerlumpte Gestalt eines Menschen mit dunkler Hautfarbe und Rastafrisur, die eine überdimensionale Schrifttafel schwenkte: Repent! The end is nigh! - Bereuet! Das Ende ist nah!
»Rechts!«, keuchte Styx. »Drehen Sie rechts und dann immer geradewegs! Wir können links drehen, wenn wir Hampstead Heath umgefahren haben!«
Schimpfend trat Amadeo das Gas durch, scherte quer über die Gegenfahrbahn. Ein Hupkonzert ertönte, doch selbst in der Agonie des Grippeinfernos bewegten sich die Briten noch zurückhaltender als der alltägliche römische Feierabendverkehr.
Zehn Meter bis zur Kreuzung, drei Autolängen, aber jetzt waren sämtliche Spuren dicht. Amadeo riss das Steuer scharf nach rechts - ein Ruck, Passanten, die stolpernd zurückwichen.
»Sie befahren das Trottoir!«, protestierte Styx.
Amadeo achtete nicht auf ihn. Eine Faust drosch gegen die Windschutzscheibe. Für eine halbe Sekunde blickte Amadeo in ein wutverzerrtes Gesicht: der Typ mit der Rastafrisur, der - warum auch immer - versuchte, sich an der Motorhaube festzukrallen. Im nächsten Moment hatte der Leihwagen ihn abgeschüttelt.
Die Kreuzung. Laternenmasten, ein Hydrant, eine Telefonzelle, ein Stück weiter Absperrungen vor einem Straßencafè, doch dazwischen ein Fußgängerüberweg - und eine Lücke im Strom der Fahrzeuge, die sich an der blockierten Kreuzung stauten. Amadeo sah seine Chance. Ohne abzubremsen, schoss er auf die Stichstraße, riss das Steuer noch einmal scharf nach rechts. Das Heck brach aus, dann hatte er den Wagen wieder unter Kontrolle.
Die Fahrbahn vor ihnen war frei - für den Moment noch. Von der Kreuzung kam nichts mehr durch, doch schon schien der Gegenverkehr das bemerkt zu haben, und die ersten Fahrzeuge scherten aus. Die Hand auf der Hupe trat Amadeo das Gas durch. Styx hatte ihnen nicht verraten, wohin der Ausflug gehen sollte, doch wenn es ihnen jetzt nicht gelang, hier wegzukommen, würde es zu spät sein. Ein paar Stunden, vielleicht nur noch Minuten, und hier würde sich gar nichts mehr bewegen.
»Es wird ruhiger werden, wenn wir uns von der City trennen«, flüsterte der Bassist. Es klang wie ein Stoßgebet - und anscheinend wurde es erhört. Nach ein paar Minuten erreichten sie eine Art Verteilerkreisel, an dem ein Polizist mannhafte Versuche unternahm, den Verkehr zu regeln. Sie waren von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Styx sagte überhaupt nichts mehr, doch nach und nach wurde die Bebauung lichter. Parkanlagen tauchten auf. Hampstead Heath, dachte Amadeo. Zeit, sich nach links zu wenden.
»Hier noch nicht«, meldete sich der Bassist. Er musste Amadeos Gedanken gelesen haben. »Sie müssen den Barnet Bypass einschlagen in einer Viertelmeile. Die Straße führt uns dann nach Edgware.«
»Raus aus der Stadt?«
»Edgware ist ein Distrikt von Middlesex gewesen bei den Ahnen, doch heute es ist ein Teil von Greater London.«
»Und was wollen wir da?«, meldete sich der commandante von der Rückbank.
»Ich bin nicht sicher«, murmelte Styx, und es war Amadeo, den er dabei ansah. »Es fühlte wie Intuition, als Sie von einem Ort sprachen, wo Händel sich gerne aufgehalten hat. Er ist ein Gast gewesen für zwei Jahre beim Duke of Chandos auf seinem Landsitz in Edgware, und es wird erzählt,
dass er dort einem Schmied gelauscht hat an einem Tag, wie er mit dem Hammer geschlagen hat den … the anvil .«
»Den Amboss«, übersetzte Amadeo, stockte. »Der harmonische Hufschmied!«
»Diese Geschichte ist verbürgt erst lange nach Händels Tod«, schränkte der Bassist ein. »Doch wenn sie die Wahrheit ist, könnte es sein, dass es dieser Ort ist, auf den Händel verweisen will, wenn er ähnlich arbeitet in der Ouvertüre von Ihrem oratory . Schematikalisch.«
Amadeo nickte. Also dann, raus aufs Land, dachte er.
Ein Funke Hoffnung.
Masar-e Sharif International Airport, Afghanistan
Die Farben waren anders.
Das war das Erste, was Rebecca auffiel, als sie hinter Alyssa und Fabio die Gangway hinunterstieg. In Europa war jetzt noch heller Nachmittag, hier dagegen stand die Sonne schon tief, doch das war nicht der Grund. Nicht allein die Ockertöne der Wüste erschienen fremdartig, sondern auch der Himmel selbst, das Licht, das Anteile von Rot und Gelb zu enthalten schien, die in Europa einfach nicht
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