Das Babylon-Virus
ob ihm für diese zehn Schritte Zeit bleiben würde, wenn der Eindringling merkte, dass noch jemand in der Werkstatt war.
Wie zur Hölle war überhaupt jemand nach Dienstschluss in die officina gekommen? Amadeo hatte nach Niccolosis Tod sämtliche Schlösser auswechseln lassen, und der letzte Angestellte, der abends die Werkstatt verließ, schloss die Tür ab, selbst für den Fall, dass der capo noch in seinem Büro war. Darauf konnte Amadeo sich verlassen.
Was, wenn der Fremde einen der Restauratoren abgefangen hatte? Ihm wurde eiskalt. Der Fremde, dachte er, oder die Fremden ? Er? Sie? Oder … oder es ? Was war ihm in seinem Traum auf den Fersen gewesen, hatte auf ihn gelauert an der Pforte?
Mit klopfendem Herzen sah er sich nach einer Waffe um. Doch es war nichts zu entdecken, selbst der Schirmständer war leer. Da fiel sein Blick noch einmal auf Farneses Schreibtisch. Die Klingen der präzisen Restauratorenwerkzeuge maßen nur wenige Zentimeter, doch sie waren spitz wie medizinische Lanzetten. Amadeo hielt den Atem an, beugte sich vor, streckte seine Finger Zoll um Zoll nach dem Messer aus …
»Mamma mia, capo ! « Aus fünfzig Zentimetern Entfernung blickten Giannas Augen über die schulterhohe Trennwand zwischen ihrem und Beppo Farneses Tisch. »Wollen Sie, dass ich einen Herzinfarkt kriege?«
Amadeo war sich gerade nicht sicher, ob er nicht selbst unmittelbar vor einem Infarkt stand. Krächzend brachte er ihren Namen hervor. »Himmel, Gianna, was tun Sie so spät noch hier?«
»Dasselbe wie Sie, denk ich mal.« Sie wuchtete einen schweren Gegenstand hoch und präsentierte ihm den Staufercodex. Die Bindung war bereits fertig präpariert, lediglich der lederne mittelalterliche Einband, den sie zum Schluss wieder umlegen sollte, fehlte noch. »Das Buch muss jetzt erst einmal ruhen. Wenn Sie so weit zufrieden sind, kann ich mich morgen an Vincenzis Auftrag machen.«
»Das … das wäre super«, sagte Amadeo, noch immer eine Spur heiser, aber das schien sie nicht zu bemerken.
»Rocco ist ganz froh, wenn er den Abend mal für sich hat«, erklärte Gianna und legte die Handschrift ab. »Die Kleinen sind jetzt im Bett, da hat er Zeit zum Arbeiten. Er brütet an einem neuen Projekt.« Bei den letzten Worten deutete sie ein Nicken an, über Amadeos Schulter hinweg. Automatisch folgte er ihrem Blick.
Raffaelo, Leonardo und Michel Angelo - Gianna und ihr Mann hatten die Namen für ihren Nachwuchs nicht aus Willkür gewählt. Rocco war nicht allein promovierter Kunsthistoriker und auf seinem speziellen Feld Amadeo durchaus überlegen, sondern sah sich obendrein selbst in der Tradition der legendären italienischen Maler, wenn er auch offen zugab, dass seine eigene Kunst anders war.
Doch, dachte der Restaurator, anders traf es recht gut. Amadeo hatte in den Geschäftsräumen so viel verändert, nachdem er die Leitung der officina übernommen hatte.
Irgendwie war er geradezu moralisch in der Pflicht gewesen, für das Großraumbüro eines von Roccos Bildern zu erwerben. Nur zu gut erinnerte er sich an Giannas Gesichtsausdruck, als sie ihm hatte erklären müssen, wie herum er das gute Stück aufzuhängen hatte. Roccos eigene Bilder waren einfach weniger, nun, gegenständlich als die Werke seiner Renaissanceidole.
»Dieses noch«, murmelte Gianna. »Wenn es diesmal nicht der Durchbruch wird, will er sich nach einem Lehrauftrag umsehen.«
Amadeo nickte verständnisvoll. Ein Lehrauftrag für Rocco war mit Sicherheit das Beste, was der fünfköpfigen Familie passieren konnte. Doch darüber musste er sich nicht auch noch den Kopf zerbrechen.
»Ich werde einen Spaziergang machen«, sagte er leise. »Wollen Sie wirklich ganz allein noch hierbleiben? Sie wissen, dass um diese Zeit niemand mehr im Haus ist, auch in den anderen Stockwerken nicht.«
Gianna sah ihn an, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Einen Moment lang hatte Amadeo das Gefühl, als wollte sie ihm etwas sagen, etwas, das vielleicht wichtig sein konnte. Aber was hätte das sein sollen? Wieder traten die ungebetenen Erinnerungen vor sein inneres Auge. Entschlossen trieb er sie fort - und im selben Augenblick war auch der unschlüssige Ausdruck auf Giannas Gesicht verschwunden. Wenn er denn überhaupt jemals da gewesen war.
»Ich spanne das jetzt noch in die Presse«, sagte sie. »Wenn Sie die Seiten nicht sortiert hätten, hätt ich das nie so schnell hingekriegt. Ich frag mich sowieso, warum die griechisch geschrieben haben bei den Suevi . Das
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