Das Babylon-Virus
waren doch eigentlich Deutsche, oder? Suevi - aus Schwaben.«
»Federico Secondo, der letzte Stauferkaiser, sprach ein halbes Dutzend Sprachen«, murmelte Amadeo.
»War das nicht der, der den Leuten den Bauch aufgeschnitten hat, um die Verdauung zu überprüfen?«
» Stupor mundi .« Der Restaurator nickte. »Das Staunen, wahlweise auch das ›Entsetzen‹ der Welt. Ein Wissenschaftler auf dem Thron und eine schillernde Persönlichkeit auf jeden Fall. - Solche Experimente sind aus moderner Sicht natürlich monströs«, fügte er eilig hinzu. »Einen Sterbenden in ein Fass zu sperren und dann abzuwarten, ob die Seele durchs Spundloch hinausschlüpft. Eine Gruppe von Säuglingen mit aller Sorgfalt aufziehen zu lassen, aber zu verbieten, ihnen das Sprechen beizubringen.«
Gianna betrachtete ihn von oben bis unten, mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck. Amadeo schwankte zwischen dem Impuls, ihr zu versichern, dass er sich selbstverständlich in aller Deutlichkeit von solchen Methoden distanzierte, und der Entschlossenheit, sein heimliches historisches Idol zu verteidigen.
»Aber das war eben auch wissenschaftliche Neugier«, sagte er schließlich. »Falsch verstanden, nach heutigem Maßstab, aber ihrer Zeit durchaus voraus. Federico ist fest davon ausgegangen, dass die Kinder ganz von alleine anfangen würden zu sprechen, und er wollte wissen, welche Sprache das sein würde: diejenige ihrer Eltern oder die ihrer Ammen, eingesogen mit der Milch sozusagen. Oder das Hebräische des Alten Testaments oder …«
Amadeo hielt inne. Hebräisch. Die Originalversion der Babylon-Geschichte war auf Hebräisch verfasst worden. Albert Einsteins Wortlaut erinnerte an die Lutherbibel, Luther aber hatte seinen Text ins Deutsche übertragen, aus lateinischen und griechischen Vorlagen, die selbst bereits Übersetzungen aus dem Hebräischen waren. Einsteins Vorfahren waren Juden gewesen. Hatte er das Hebräische beherrscht? Doch, mit Sicherheit. Wenn Amadeo Einsteins Text ins Hebräische
übersetzte und dann einen Vergleich mit dem Urtext aus der jüdischen Thora anstellte? War es denkbar, dass erst dann der Code deutlich wurde?
»Nein«, murmelte er. »Das ist unmöglich.«
»Vor allem ist es erschreckend«, kommentierte Gianna, die nicht wissen konnte, was in seinem Kopf vorging.
Amadeo nickte zerstreut. Eine Übersetzung ins Hebräische traute er sich zu - er beherrschte die Sprache. Doch wie konnte er sicher sein, dass er genau den Wortlaut traf, den Einstein im Kopf gehabt hatte? Und viel wichtiger: Hätte Einstein sicher sein können, dass das funktionieren würde?
Zu viele Unbekannte. Das war es nicht. Eine codierte Botschaft musste eindeutig zu entziffern sein, wenn man den Schlüssel kannte.
Er schüttelte den Kopf, griff nach seinem Mantel. »Wenn Sie wieder mal so was haben, Gianna, einen Text, den Sie nicht lesen können, sagen Sie mir einfach Bescheid, falls ich nicht selbst dran denke.«
Mit einem Nicken war er durch die Tür und rief den Fahrstuhl.
Amadeo trat hinaus auf den Fußweg an der Via Oddone. Eisige Luft empfing ihn. Gefroren hatte es noch nicht, doch er schmeckte es auf der Zunge: Es würde frieren, später in der Nacht vielleicht, gegen Morgen mit Sicherheit.
Der junge Restaurator schlug den Kragen seines Mantels hoch und machte sich auf den Weg Richtung Park. Die Gartenanlagen selbst würde er meiden. Sie wurden nach Anbruch der Dunkelheit kaum beleuchtet - das machte sie so anziehend für heimliche Verabredungen, aber eben auch für allerhand tagesscheues Gelichter, dem er nicht unbedingt begegnen wollte. Stattdessen wandte er sich am Ende der Straße nach rechts, wenige hundert Meter weiter wieder
nach links, auf die antike Pyramide des Cestius zu und die Porta di San Paolo, hinter der das historische Zentrum der Ewigen Stadt begann.
Die Straßen und Gehsteige waren belebt um diese Uhrzeit. Die Heerscharen von Touristen ließen sich von Dunkelheit und Kälte nicht abschrecken und von den Reisewarnungen wegen der Grippe wohl ebenso wenig. In diesem Punkt konnte Amadeo die Leute allerdings verstehen. Welchen Sinn hatten Reisewarnungen, wenn die Grippe sowieso schon auf der ganzen Welt unterwegs war? Und was die Kälte anbetraf: Die Gruppe direkt vor ihm, borstige rote und blonde Haare, konnte er auf Anhieb als Deutsche identifizieren. Die waren die Kälte ohnehin gewöhnt, und solche Gewohnheiten saßen tief bei den Leuten von jenseits der Alpen. Wenn sie auch heute nicht mehr mit Axt
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