Das Babylon-Virus
Ordnung?«
Der Junge trug eine rasant geschnittene Lederjacke und hatte Gel im Haar wie Marlon Brando in seinen schlimmsten Zeiten. Den Arm hatte er um ein Mädchen gelegt, nein, eine junge Frau. Nein. Amadeo kniff die Augen zusammen. Eine gar nicht mehr ganz so junge Frau! Die dezent geschminkte Dame mit der neckischen Pelzstola war mindestens zehn Jahre älter als Fabio!
»Alyssa, das ist mein Chef, von dem ich dir so viel erzählt
habe«, stellte der Junge vor. » Dottore Fanelli von der officina . - Capo , das ist …«
» Piacere! «, murmelte Amadeo und streckte der Dame die Hand entgegen. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Sie zögerte einen Moment, bevor sie seine Hand schüttelte, ohne eine Miene zu verziehen. Ein Händedruck wie ein toter Fisch. Der Restaurator konnte sich kaum vorstellen, dass sie von seinen eigenen eiskalten Fingern begeisterter war.
»Na, wohin sind Sie noch auf Achse?«, erkundigte sich Fabio.
Amadeo konnte sich für die Antwort einen Moment Zeit lassen. Sein Ristretto war fertig.
»Ein Spaziergang«, murmelte er schließlich, während er den caffè an die Lippen führte. Guter caffè , und heiß vor allem. Er verbrannte sich gerade die Zunge, war aber fest entschlossen, sich vor dem Jungen und seiner Flamme nichts anmerken zu lassen. »Den Kopf freipusten«, erklärte er.
»Geht’s nicht voran mit Ihrem Kreuzworträtsel?«, fragte Fabio verständnisvoll.
Von einem Moment zum anderen war Amadeos Contenance dahin. »Das ist kein Kreuzworträtsel!«, knurrte er. »Das sind einfach Buchstaben! Ein berufliches Projekt! Tausendfünfhunderteinundzwanzig gottverdammte Buchstaben! - Zufrieden?«, brummte er etwas weniger polterig, als er Fabios betretenen Gesichtsausdruck sah. »Noch irgendwelche Anmerkungen?«
Der Junge blinzelte. »Tausendfünfhunderteinundzwanzig? Äh, das sind neununddreißig zum Quadrat.«
Amadeo war perplex. Fabio Niccolosi und sein Zahlentalent. Er brauchte Sekunden, bis er begriff, was der Junge da gerade gesagt hatte.
Er stellte seinen caffè ab. »Rechne noch mal nach! Das stimmt mit Sicherheit?«
»Das stimmt«, meldete sich Alyssa. Wer war die Frau? Seine Nachhilfelehrerin?
Doch Amadeos Gedanken überschlugen sich. Wenn das tatsächlich stimmte, neununddreißig im Quadrat, neununddreißig mal neununddreißig, dann war das eine Regelmäßigkeit, ein Schema innerhalb des Einstein-Textes! Dann konnte das genau der Punkt sein, nach dem er die ganze Zeit gesucht hatte. Die Markierung an der Aufreißlasche der Käseverpackung!
Zum Quadrat. Das bedeutete, dass man die Buchstaben tatsächlich im Quadrat schreiben konnte, neununddreißig senkrecht, neununddreißig waagerecht, und dann …
» Capo?«
Amadeo sah ihn an. »Schon gut«, murmelte er. »Mir ist gerade etwas eingefallen. Euch beiden …« Er machte eine vage Handbewegung. »Noch einen schönen Abend. Und vielen Dank, Fabio! Du hast mir sehr geholfen.«
»Geholfen?« In den Augen des Jungen stand vollständige Verwirrung.
Der Restaurator ließ das Pärchen einfach stehen. Aus dem Augenwinkel hatte er beobachtet, wie sich der Verkehr auf der Piazza zu stauen begann. Amadeo erkannte seine Chance und huschte über die Straße. Beinahe direkt gegenüber begann schon der Park, an dessen jenseitigem Ende sich das Bürogebäude mit der officina erhob. Zwischen den Bäumen war es nicht heller als vor einer halben Stunde, doch außen herum zu gehen hätte einen Zeitverlust von zehn bis fünfzehn Minuten bedeutet. Eine Viertelstunde Verzögerung, bevor er erfahren würde, ob er tatsächlich richtig lag? Bevor er die babylonischen Buchstaben mit seiner Textverarbeitung neu gliedern konnte, in neununddreißig Zeilen à neununddreißig Zeichen? Ausgeschlossen.
Amadeo bremste ab, als ihm aus einem spärlich beleuchteten
Kiesweg ein Herr entgegenkam, der augenscheinlich nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war. Schwaden von Wermut schlugen dem Restaurator entgegen. Einen Moment lang kämpfte er gegen eine Welle der Übelkeit, doch mit zwei Schritten war er aus der Gefahrenzone, und der Kies knirschte unter seinen Füßen.
Seine Sicherheit wuchs mit jedem Schritt: Die Symmetrie des Textes war der erste Ansatz einer Spur, den er überhaupt zu fassen bekam, und sie konnte kein Zufall sein, nicht bei Albert Einstein, der in einer Welt der Zahlen und Formeln zu Hause gewesen war!
Neununddreißig. Warum gerade neununddreißig? Welche Bewandtnis hatte es mit der Neununddreißig? Zahlen konnte man von mehreren
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