Das Babylon-Virus
Baum sein gesamtes Gewicht, bis er den Fuß hinüber aufs feste Land setzte.
Der Boden war tatsächlich überraschend fest und machte nicht den Eindruck, als sei die Insel erst vor Kurzem entstanden. Und offenbar war es auch nicht immer völlig einsam hier; davon zeugten die Abfälle, die überall herumlagen. Leere Getränkedosen, ein ganzes Nest von Zigarettenkippen und, ausgebleicht von der Sonne, ein Heftchen von der Sorte, an denen der dicke Luigi aus der officina seine Freude hatte. Und es stank bestialisch hier, als wäre ganz in der Nähe etwas ziemlich Großes verendet.
Amadeo hatte seine Navigation in der Tasche der Regenjacke verstaut, holte sie jetzt wieder hervor. Eine halbe Sekunde näher an sein Ziel war er bereits gelangt. Er behielt die Zahlen im Auge, während er Äste beiseitedrückte und sich durch das Gestrüpp vorankämpfte. Wie ein Astronaut kam er sich vor in dieser Montur, doch selbst auf dem Mond konnte es nicht so trostlos aussehen wie hier, und da gab es wenigstens nicht diese Hindernisse, stachlige Zweige, vergammelte Stauden, über die man hinwegklettern musste. Noch zehn, zwölf Schritte …
Sein rechter Fuß rutschte weg. Unter wütendem Krakeelen
flog ein Schwarm Möwen auf. Keuchend suchte Amadeo Halt, klammerte sich ins Gestrüpp und starrte auf das brackige Wasser, das unter ihm schimmerte. Die Insel war wahrhaft winzig, und hier, gegenüber der Anlegestelle, bildete sie eine Art Bucht auf den Bahndamm hin. Der Restaurator sah auf die Positionsanzeige: 52 Grad 21 Minuten 25 Sekunden 23 nördlicher Breite, 12 Grad 59 Minuten 38 Sekunden 58 östlicher Länge.
Wenige Meter, vielleicht nur Zentimeter von der im Babylon-Text verschlüsselten Stelle. Vielleicht war es sogar genau diese Stelle, vielleicht war Einsteins Geheimnis direkt zu seinen Füßen verborgen. Die Fehlertoleranz der Navigationssoftware lag bei mehreren Metern.
Stirnrunzelnd sah er sich um. Nein, ein idyllisches Fleckchen hatte Einstein sich nicht ausgesucht, wobei der Pappbecher mit McDonalds-Aufdruck, der auf der schlammigen Wasseroberfläche trieb, erst lange nach seiner Zeit hier gelandet sein konnte, vermutlich aus einem Zugabteil heraus. Durchdringender Fäulnisgestank stieg in Amadeos Nase, und ein giftig schimmernder Ölfilm lag auf dem Wasser.
Es musste hier einfach anders ausgesehen haben zu Einsteins Zeit.
Der Restaurator hielt sich mit beiden Händen im Geäst fest und ging in die Hocke. Vorsichtig ließ er einen Fuß ins Wasser gleiten, dann den anderen. Die schmatzenden Geräusche, die dabei entstanden, drehten ihm den Magen um. Er tat das für Helmbrecht, immer wieder musste er sich das einhämmern. Er war dem alten Mann so vieles schuldig - aber nach diesem Unternehmen würden sie auf jeden Fall quitt sein, dachte er finster.
Amadeo schob sich noch ein Stück näher ans Ufer, glitt vollends in das verpestete Nass, wobei er sich weiterhin in den Zweigen festhielt. Einen Moment lang spürte er Widerstand
unter den Füßen, Wurzeln, abgestorbenes Holz, dann war wieder nur unbestimmte Leere unter ihm. Wie eine eisige Faust schloss sich das Wasser um seinen Körper, drang gluckernd unter die Regenjacke und presste ihm den Atem aus der Brust. Für eine Sekunde überkam ihn Panik. Er schien vergessen zu haben, wie man atmete. Seine Lungen selbst waren es, die schließlich ächzend protestierten und die froststarre Luft einsogen.
Amadeo wartete, dass sein Pulsschlag sich beruhigte, blickte noch einmal suchend um sich. Er war am richtigen Ort, wenigstens annähernd. Was erwartete ihn nun? Eine Flaschenpost war natürlich der Klassiker, und tatsächlich dümpelte ein Stück entfernt eine bräunliche Glasflasche auf den Wellen, doch das Etikett war noch gut zu entziffern und eindeutig neueren Datums.
Wonach suchte er überhaupt? Was hatte Einstein hier versteckt? Der dechiffrierte Code gab eine Antwort auf das Wo, verriet aber nicht mal eine ungefähre Größe. Es blieb nur der Hinweis in der Erzählung selbst, die von Gefäßen berichtete, in denen die Engel die Gaben des HErrn befördert hatten. Tönerne Amphoren vermutlich, das babylonische Gegenstück zur Flaschenpost. Doch das war Unsinn. Dieser Teil der Geschichte war Einsteins Erfindung, ein Platzhalter, der lediglich deutlich machen sollte, dass an einem bestimmten Ort etwas auf denjenigen wartete, dem es gelang, den Code zu entschlüsseln - den größten Gelehrten der Menschheit in Anglerhosen und Gummistiefeln.
Mit äußerstem Widerwillen ließ
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