Das Babylon-Virus
Der ehemalige sowjetische Geheimdienst. Auf einen Schlag befand sich sein Magen irgendwo auf Höhe der Kniekehlen.
»Wovon zum Teufel reden Sie?«
»Mussten Sie die Kinder mit reinziehen?« Es stand kein Vorwurf in Fernwaldts Augen, sondern einfach nur Unverständnis. Das war vielleicht das Schlimmste. »Glauben Sie, ich hätte nicht ausreichend Angst vor Ihnen?«, fragte der Alte. »Wozu die Komödie mit dem Boot? Hätten Sie mich nicht einfach beiseitenehmen können vorhin?«
Amadeo hatte nicht die leiseste Ahnung, was hier vorging. Er wusste nur eines: Es jagte ihm eine Heidenangst ein.
»Wovon reden Sie?«, wiederholte er heiser.
Die Augen des Alten gingen an ihm vorbei auf die Weite des sturmgepeitschten Sees:
»Zweiundfünfzig Grad einundzwanzig Minuten fünfundzwanzig Sekunden neunundzwanzig nördlicher Breite, zwölf Grad neunundfünfzig Minuten achtunddreißig Sekunden einundfünfzig östlicher Länge.«
Amadeo stand auf festem Grund, doch auf einmal schien der Boden unter ihm zu schwanken wie in den schlimmsten Augenblicken an Bord der Sturmkönigin. Einsteins Koordinaten! Auf die winzigsten Sekundenbruchteile genau!
»Was …?«, flüsterte er. »Wo haben Sie das her?«
»Wir wussten, dass Sie kommen würden.« Fernwaldt schien zu sich selbst zu sprechen. »Die Botschaft war ja deutlich. Und doch ist es immer unwirklicher geworden mit den Jahren. Kann es denn heute überhaupt noch wichtig sein?« Erst jetzt sah er Amadeo wieder an. »Was wollen Sie noch damit? Sie müssen doch längst viel weiter sein!«
»Weiter?« Amadeo war sich nicht mehr sicher, ob er am Verstand des alten Mannes zweifeln sollte oder an seinem eigenen. »Ich begreife immer weniger!«
»Versprechen Sie mir eins.« Fernwaldts Augen fixierten ihn. »Ich weiß, dass in Ihrem Geschäft andere Regeln gelten, eigene Regeln. Dass ein Menschenleben nicht besonders viel wert ist. Aber ich schwöre Ihnen eines: Die Kinder wissen von nichts. Ganz gleich, was Sie glauben, tun zu müssen: Lassen Sie die Kinder aus dem Spiel!«
Amadeo schüttelte den Kopf, bereute es jedoch sofort, als er sah, wie sich Fernwaldts Blick veränderte. »Nein«, sagte er leise. »Ich meine: Ja! Natürlich! Das verspreche ich Ihnen.« Himmel, er war der letzte Mensch, der einem alten Mann oder irgendwelchen Kindern etwas antun würde. Selbst wenn es dieselben Kinder waren, die ihm vor einer Stunde auf den Kopf gespuckt hatten. Er musste ja erst einmal begreifen, was hier überhaupt vorging! »Wenn wir uns vielleicht einfach in Ruhe unterhalten könnten?«, schlug er vor. Er fror mehr denn je, hatte sich nicht mal abtrocknen können mit den klitschnassen Handtüchern. Und er stank, doch dagegen konnte er im Augenblick nichts tun. »Vielleicht bei einem Kaffee?«
Berlin-Charlottenburg, Deutschland
Ein unfreundlicher Windstoß fauchte durch die Häuserschluchten.
Steffen Görlitz schlug den Kragen seines Mantels hoch.
Ein Hustenanfall schüttelte ihn, und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als er sah, wie die Leute automatisch einige Schritte zurückwichen.
Die Grippe. In Berlin griff die Hysterie um sich. Seit ein, zwei Tagen war es ganz schlimm.
Eine seltsame Ironie, dachte Görlitz. Wie sich die Gesichter der Passanten plötzlich verändert hatten. Als wäre er von einem Augenblick zum anderen zu einer tödlichen Gefahr für sie geworden. Wie recht sie doch hatten, grübelte er, und wie sehr sie sich täuschten. Niemand musste Angst vor ihm haben - zumindest nicht wegen der Grippe.
Er war vor einem Schaufenster stehengeblieben: ein Spielwarengeschäft, schon für das Weihnachtsfest dekoriert. Durch seine verspiegelte Sonnenbrille musterte er die Auslagen. Es war der richtige Laden, kein Zweifel, einen halben Block von der U-Bahnlinie, die genau vor seinem Haus hielt, und direkt gegenüber einem Schnellrestaurant.
Unauffällig sah er auf die Uhr. Die Stimme am Telefon hatte es fürchterlich dringend gemacht, doch das allein hätte Görlitz nicht beeindruckt. Weit beunruhigender war, dass dieser Mann seine Nummer überhaupt kannte.
In der Schaufensterscheibe musterte er die Gestalten, die mit raschen Schritten vorübereilten. Man wusste nie, wie diese Leute aussahen. Ein Teil ihres Geschäfts bestand darin, dass man sich schwer an sie erinnern konnte. Es konnte der junge Mann auf der anderen Straßenseite sein, der so offensichtlich desinteressiert vor dem Imbiss stand und eine
Zigarette rauchte, doch Görlitz bezweifelte das. Wer wirklich
Weitere Kostenlose Bücher