Das Babylon-Virus
Geschwister, die heute allesamt tot waren.
»Als ich geboren wurde, war Onkel Albert schon in Princeton«, sagte Amadeos Gastgeber mit müder Stimme. »Leider habe ich ihn nie selbst kennengelernt. Das war unmöglich damals, kurz nach dem Krieg.« Er saß dem jungen Restaurator gegenüber auf einem stoffbezogenen Sofa.
Irgendwie gefiel Amadeo das winzige Häuschen am Rande von Caputh sogar, wenn auch etwas arg viel Nippes rumstand für seinen Geschmack, Schnitzereien aus dem Erzgebirge, kleine Sammeltassen aus Meißner Porzellan. Auf dem Fensterbrett über der Heizung war eine Auswahl gehäkelter Deckchen ausgebreitet - Werke von Fernwaldts verstorbener Frau. Auf einem davon lag Amadeos telefonino zum Trocknen.
Doch in Wahrheit besaß der Restaurator gar nicht die Nerven, groß auf die Einrichtung des Häuschens zu achten.
Gebannt hing er an Fernwaldts Lippen.
»So vieles war unmöglich damals«, sagte der Alte. Er nickte zu seinem Kaffee, nahm einen Schluck. »Die einfachsten Dinge. Sie können sich nicht vorstellen, wie wir hier gelebt haben. Manchmal habe ich selbst Mühe damit, heutzutage.«
»Einstein …« Amadeo schluckte. »Albert Einstein war Ihr Onkel?«
Fernwaldt schüttelte den Kopf. »Nicht im… wie sagt man? Nicht im biologischen Sinne. Mein Vater war mit ihm befreundet, durch das Segeln, und das hat sich gehalten, so lange Onkel Albert lebte - und das will was heißen in diesen Zeiten. Zuerst der Krieg und die Nazis, dann die Russ … Die amerikanische Aggression«, verbesserte er sich.
Amadeo machte eine wegwerfende Handbewegung. Er war kein Agent, weder vom KGB noch von dessen Nachfolger im Geiste, auch wenn er das noch nicht offen gesagt hatte, weil er befürchtete, Fernwaldt würde auf der Stelle stumm werden wie die Hechte im Schwielowsee.
Dabei schrie alles in ihm danach, dem Alten die Wahrheit zu sagen. Fernwaldt hatte Jahrzehnte seines Lebens in einer Diktatur verbracht, in der die Menschen auf Schritt und Tritt überwacht wurden, von heute auf morgen verschwanden
und nie wieder gesehen wurden. Was sollte er erwarten, als dass Amadeo im nächsten Moment eine Kleinkaliberwaffe ziehen würde, um das Wissen zu schützen, das Familie Fernwaldt so lange Zeit gehütet hatte?
Doch Amadeo wagte es nicht, seine Karten auf den Tisch zu legen. Irgendwie musste er die Balance halten, weder zugeben, wer er wirklich war, noch den Mann zu sehr einschüchtern durch übertriebenes Agentengehabe. Am sichersten war es, wenn er so wenig wie möglich sagte. Fernwaldt schien fast erleichtert, endlich über die Dinge sprechen zu können, über die er so lange hatte schweigen müssen.
»Natürlich mussten wir vorsichtig sein.« Der alte Mann stellte seine Tasse ab. »Mein Vater war schon lange davon überzeugt, dass Onkel Albert irgendwie mit dem Geheimdienst zu tun haben musste. Er war ja einer der schärfsten Kritiker des Wettrüstens damals, und seine politische Überzeugung, seine Sympathie für den Sozialismus, war kein Geheimnis. Und woran er arbeitete, sein Wissen um die Grundlagen der Bombe, das wusste die ganze Welt. Und die Amerikaner … Er lebte ja nun in Princeton. Wahrscheinlich wussten sie sogar, dass er mit Ihnen zu tun hatte.«
Amadeo nickte stumm. Die Szene war unwirklich, doch Fernwaldt schien nicht zu bemerken, in welcher Verfassung sich der Restaurator befand.
Mit leiser Stimme fuhr der Alte fort: »Dass Briefe hin und her gingen, ließ sich nicht verheimlichen. Meist stand auch gar nichts drin, das man hätte verheimlichen müssen. Aber eine Möglichkeit gab es eben doch: Onkel Albert hatte sich da was ausgedacht, das wir als Kinder ungeheuer spannend fanden: Man musste einfach nur jeden neununddreißigsten Buchstaben lesen, dann kam noch eine versteckte Botschaft zum Vorschein, doch selbst die war meist ganz harmlos: Und was macht die Schule, Robert? - Solche Sachen.
Schon klar, Ihnen muss das lächerlich vorkommen.« Er nickte Amadeo zu.
»Lächerlich«, bestätigte der Restaurator. Klang er eine Spur heiser, oder hatte er seine Stimme unter Kontrolle? Man musste einfach nur jeden neununddreißigsten Buchstaben lesen. So weit zu dem undurchschaubaren Geheimnis, das er glaubte, geknackt zu haben. So weit zum Durchbruch in der kryptologischen Wissenschaft. Doch wenn man wusste , wie ein Code funktionierte, konnte eben wirklich jedes Kind ihn dechiffrieren. Und Fernwaldt und seine Geschwister hatten gewusst, wie sie vorgehen mussten. Anders als Amadeo.
»Bis dann der letzte Brief
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