Das Babylon-Virus
kam.« Der Gesichtsausdruck des Alten veränderte sich. »Wenige Monate vor Onkel Alberts Tod. Dieser Brief war anders - nicht im Ton, der war locker wie immer, aber in der Botschaft.«
»Und die lautete?«, fragte Amadeo. Doch er ahnte es bereits.
» Zweiundfünfzig Grad einundzwanzig Minuten fünfundzwanzig Sekunden neunundzwanzig nördlicher Breite «, bestätigte der alte Mann. » Zwölf Grad neunundfünfzig Minuten achtunddreißig Sekunden einundfünfzig östlicher Länge. «
Amadeo schluckte: »Und da haben Sie einfach … nachgeschaut an der Stelle?«
Sein Gastgeber schüttelte den Kopf. »Wir hatten genaue Anweisungen.«
Der Restaurator hob eine Augenbraue. »Muss ein ziemlich langer Brief gewesen sein, wenn Sie nur jeden neununddreißigsten Buchstaben …«
»Glauben Sie?« Für eine Sekunde blitzte der Schalk in den Augen des Alten. »Nein, die Anweisungen hatte Onkel Albert ganz offen niedergeschrieben: Er würde uns ja noch
immer ganz fürchterlich beneiden, dass wir ständig angeln gehen könnten auf dem Petzinsee. Da könnte man ja einen fantastischen Fang machen und hätte auch gleich was im Haus, wenn ein besonderer Gast vorbeischaute.« Mit einem Nicken wies er auf Amadeo.
Der hatte Mühe, ein Keuchen zu unterdrücken.
»Also sind wir rausgefahren mit der Sturmkönigin«, murmelte Fernwaldt. »Und als wir die Stelle einmal gefunden hatten, waren auch die Zusammenhänge schnell klar. In seinem letzten Brief hatte mein Vater den bevorstehenden Bau des Damms erwähnt, quer durch den See. Davon hatte Onkel Albert natürlich nichts ahnen können, als er aus Deutschland wegging, zwanzig Jahre vorher. Und glauben Sie mir, als wir später losgelegt haben mit dem Bau … Das hat den gesamten Seegrund aufgewirbelt, metertief. Es hat Jahre gedauert, bis da wieder Fische leben konnten. Mit Sicherheit wäre das Depot entdeckt worden.«
»Das Depot«, hauchte Amadeo.
Der alte Mann nickte. »Die Unterlagen befanden sich in einem versiegelten Metallbehälter. Das Wasser war nicht besonders tief an dieser Stelle, vier oder fünf Meter höchstens.«
»Ein Behälter«, murmelte Amadeo. »Ein Gefäß sozusagen. Wo ist er jetzt?«
»Wir haben ihn verschwinden lassen. Die Schriftstücke waren schon schwierig genug zu verstecken. Wir dachten, das sei besser so.«
Amadeo nickte nachdenklich. Was war der Familie übrig geblieben, wenn sie davon ausgehen musste, dass eine geheimdienstliche Angelegenheit im Gange war?
»Wir mussten ihn öffnen«, sagte Fernwaldt rasch. Wieder hörte Amadeo das Zittern in seiner Stimme. »Wir waren dazu gezwungen. Wir hatten keine Wahl. Mein Vater
war sich nicht sicher, ob bei der Bergung nicht Wasser eingedrungen war. Aber es … es war alles in Ordnung, so weit wir das beurteilen konnten.« Er sah den Restaurator an, mit einem Blick, dass Amadeo nur unter Aufbietung aller Kräfte dem Drang widerstand, dem Mann reinen Wein einzuschenken, hier und gleich und auf der Stelle.
»Ich schwöre Ihnen …« Die Stimme des Alten klang wie eine rostige Feile. »Ich schwöre Ihnen, dass ich keine Ahnung habe, was das hier zu bedeuten hat.«
Fernwaldts Finger zitterten, als er noch einmal in die stoffbezogene Fotobox griff und ein Kuvert zum Vorschein brachte. Es war nicht viel größer als Professor Helmbrechts Umschlag, mit dem für Amadeo alles begonnen hatte.
Ein Umschlag. Kein babylonisches Heilmittel. Ein Umschlag.
Am Anfang ein Umschlag, dachte er, und am Ende ein zweiter. Irgendwie passte das.
Einsteins Geheimnis.
Lesen. Lösen. Herbringen.
Mit einer Scheu, die ihn selbst erstaunte, nahm Amadeo das Kuvert entgegen. Es war nicht verschlossen.
Vorsichtig schob er die Lasche auf und spähte hinein.
Auf wackligen Beinen verließ Amadeo das Häuschen, in dem Fernwaldt seit dem Tod seiner Frau alleine lebte - und seinetwegen auch weiterleben sollte bis an sein seliges Ende. Bis zum letzten Augenblick musste der alte Mann damit gerechnet haben, dass sein besonderer Gast ihn jetzt doch noch liquidieren würde.
Amadeo hatte nicht den Hauch einer Absicht, irgendjemanden zu liquidieren. Er setzte sich hinter das Steuer seines Mietwagens und verharrte dort minutenlang, ohne sich zu rühren.
Einsteins Geheimnis. Er hatte Albert Einsteins Geheimnis im Gepäck. Noch hatte er nur einen kurzen Blick in den Umschlag werfen können, doch was er dort gesehen hatte …
Amadeo schüttelte den Kopf. Er brauchte Abstand, bevor er sich damit befassen konnte. Mechanisch legte er den Gang ein,
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