Das Babylon-Virus
startete den Wagen und beschloss, nach Potsdam hineinzufahren.
Auf einem Parkplatz nahe des Schlosses Sanssouci stellte er das Auto ab und spazierte aufs Geratewohl in den herbstlichen Park hinein. Der Wind wehte unvermindert, doch die Wolken hatten sich verzogen, und über den Gartenanlagen spannte sich ein stahlblauer Himmel. Amadeo hatte ihn beinahe für sich allein. Die Grippe hielt die Menschen in ihren Häusern.
Auch das kleine Café, das er nach einer Viertelstunde ansteuerte, musste unter normalen Umständen ein Publikumsmagnet sein, heute aber waren nur die wenigsten Stühle besetzt. Amadeo wählte einen Platz am Fenster, ein Stück entfernt von zwei alten Damen, die leise miteinander tuschelten. Beide trugen Atemmasken, anders als eine Gruppe von Jungs im Teenageralter, die sich am Nebentisch lümmelten. Ab und zu stieß einer von ihnen ein übertriebenes Hatschi! hervor, woraufhin die beiden Damen instinktiv zusammenzuckten und die jungen Leute sich vor Kichern schüttelten. Als Amadeo sich eine latte macchiato bestellte, kam noch ein Typ mit kahlrasiertem Kopf und Sonnenbrille herein und suchte sich ebenfalls einen Platz am Fenster.
Amadeo waren diese Kerle unheimlich. Erst als der Mensch hinter einer Zeitung unsichtbar wurde, schaute er für einen Augenblick hin und konnte die Schlagzeile auf der Vorderseite des Revolverblatts erkennen: Killergrippe - aus geheimem Armeelabor entkommen?
Er selbst fühlte sich noch immer keine Spur kränklich.
Nachdem ihm nicht mal seine Badetour den Rest gegeben hatte, gehörte er wohl wirklich zu den Glücklichen, die immun waren.
Ein Lichtblick, dachte er, doch rechte Freude wollte nicht aufkommen. Nicht wenn er an Helmbrecht dachte, um dessentwillen er dieses Abenteuer auf sich genommen hatte. Lesen. Lösen. Herbringen. Amadeo hatte Einsteins Geheimnis gefunden und würde dem Professor seinen letzten Wunsch erfüllen - wenn er noch rechtzeitig kam. Ja, sie hatten keine Zeit mehr, das wusste er.
Doch noch war er nicht bereit. Helmbrecht hatte noch etwas anderes gesagt in seinem Traum, und das war etwas, das Amadeo auch im Wachzustand schon mehr als einmal von ihm zu hören bekommen hatte: Sie müssen die Kleinigkeiten im Auge behalten.
Genau das würde er jetzt tun, noch bevor er sich auf den Weg nach Weimar machte.
Amadeo öffnete seine Aktentasche und holte den Umschlag hervor. In einem Behälter war er versteckt gewesen, einem Gefäß - genau wie das Heilmittel in Einsteins Geschichte. Ein Zufall? Wohl eher eine Notwendigkeit, wenn man ein Geheimnis unter Wasser deponierte.
Amadeo zog die Lasche auf und ließ den Inhalt des Kuverts auf den Caféhaustisch gleiten. Ein merkwürdiges Déjà-vu überkam ihn: ein Stapel zusammengefalteter Seiten und ein zweiter, etwas kleinerer Umschlag mit den Initialen A. E. - Albert Einstein. Amadeo legte ihn zunächst beiseite.
Stirnrunzelnd nahm er sich stattdessen den Stapel loser Seiten vor: Vier Blätter, fünf, und sie sahen alt aus, wirklich alt. Die Bögen waren handbeschrieben, mit einer schnörkeligen, ein wenig zittrigen Schrift, die sich vom Gilb des Hintergrunds kaum noch abhob. Amadeo kannte dieses Phänomen: Tinte hielt sich nicht ewig. Im Laufe der Jahrhunderte
verblasste sie immer mehr, bis nur noch ein Schatten des geschriebenen Wortes von vergangenen Geheimnissen kündete.
Jahrhunderte! Spontan datierte Amadeo diese Schrift auf den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, lange vor Einsteins Geburt auf jeden Fall. Der neue Text, Einsteins Geheimnis, stammte überhaupt nicht von Albert Einstein!
Einen Moment lang fiel ein Schatten auf das Blatt, als das junge Mädchen, das an den Tischen bediente, dem Glatzkopf seine Bestellung brachte. Amadeo spürte den Impuls, die Seite mit den Fingern zu verdecken, ließ es dann aber bleiben. Nein, er musste keine Angst haben, dass ihm irgendwelche finsteren Gestalten über die Schulter spähten. Fernwaldts fixe Idee, dass Einsteins Vermächtnis irgendwas mit seinen Atomforschungen zu tun haben musste, war aus der Perspektive des Alten zwar nachvollziehbar, aber sie war mit Sicherheit falsch. Als dieser Text geschrieben wurde, hatte die Welt noch nichts geahnt von der Relativitätstheorie oder der atomaren Spaltung. Zu dieser Zeit hatte sich kaum Isaac Newton richtig durchgesetzt.
Zu dieser Zeit … Automatisch hatte Amadeo angefangen zu lesen, Buchstabe für Buchstabe. Er hatte größte Mühe, sich die Worte, die Zeilen zusammenzureimen.
Ja, zu reimen. - Im wahrsten
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