Das Babylon-Virus
eine seltsam rötliche Färbung - rot wie Blut, das tröpfchenweise in das kalte Herbstfirmament sickerte.
Weimar, Deutschland
Die Chronisten schrieben den 14. Oktober des Jahres 1806, als das Verhängnis über Weimar hereinbrach.
Bei Jena und Auerstedt hatten die verbündeten Preußen und Sachsen eine vernichtende Niederlage einstecken müssen. Nichts stand nunmehr zwischen Napoleons siegreicher Invasionsarmee und der kleinen herzoglichen Residenzstadt. An die schreckliche Nacht, die auf das Gemetzel auf dem Schlachtfeld folgte, sollten die Zeitgenossen sich später ihr Leben lang erinnern.
Die öffentliche Ordnung war vollständig zusammengebrochen. Die Sieger drangen in die Häuser ein, plünderten, schändeten, mordeten, wie es ihnen in den Sinn kam. Einzig im Goethehaus am Frauenplan konnte Christiane Vulpius die tobende Soldateska zurückhalten - zum Dank dafür reichte der Dichterfürst ihr einige Tage später die Hand zum Bund fürs Leben. Doch der Rest der Stadt: ein Chaos, ein Sengen, ein Brennen und …
Amadeo Fanelli hatte sich der Vergangenheit selten so nahe gefühlt.
Längst hatte sich der Abend über Weimar gesenkt, als er von der Autobahn her das Ortsschild erreichte, doch es war nicht dunkel in der Stadt. Die Straßenlaternen brannten,
und nicht sie allein. Schon an der Einfallstraße kam Amadeo an zwei qualmenden Autowracks vorbei. Als er den Ring um die Innenstadt erreichte, sah er huschende Gestalten auf den Bürgersteigen - die ersten Menschen, die er überhaupt zu Gesicht bekam, und sie sahen nicht vertrauenerweckend aus. Was schleppten die Leute mit sich herum? Der Restaurator wurde langsamer.
Ein Schlag traf den Mietwagen. Amadeo keuchte, trat in die Bremse. Ein schemenhafter Umriss auf der Fahrbahn direkt vor ihm. Ein Mensch! Er riss das Steuer herum. Für den Bruchteil einer Sekunde erfasste der Scheinwerfer eine dunkel gekleidete Gestalt mit einem … einem Knüppel? Einem Baseballschläger? Amadeo stieg aufs Gas. Ein protestierendes Quietschen: Die Reifen drehten durch, der Wagen bockte, gehorchte dann doch noch. Eine Sekunde später war Amadeo aus der Gefahrenzone.
Plünderer. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Was war in dieser Stadt im Gange? In Caputh, in Potsdam waren die Straßen nahezu menschenleer gewesen, keine Spur von einem solchen Chaos! Hatte die verdammte Grippe Weimar so viel heftiger getroffen? Würde es in ein paar Tagen in jeder Stadt so aussehen, wenn die Krankheit weiter um sich griff?
Amadeo kam an Geschäften vorbei; die Schaufenster waren verbarrikadiert und vernagelt. Von irgendwoher ertönte das Geräusch einer Polizeisirene.
Der Restaurator biss die Zähne zusammen und setzte den Blinker links. Er kam sich dabei lächerlich vor. Seit dem Ortsschild war er vielleicht einem halben Dutzend Fahrzeugen begegnet. Jedenfalls würde er sich nicht ohne Not in die Innenstadt wagen. Wenn Helmbrecht krank war, hatte er an dem kleinen Häuschen am Stadtrand sowieso die besseren Chancen.
Tatsächlich wurde es in den Außenbezirken etwas ruhiger. Hier und da sah Amadeo sogar Menschen auf der Straße, die augenscheinlich nicht aufs Plündern aus waren. Vielleicht war es sogar eine Art Bürgerwehr, die genau das verhindern wollte.
Seine Navigation lotste ihn in eine Vorortsiedlung voller gepflegter Gartengrundstücke. Noch einmal rechts in eine Sackgasse - der Professor und seine Frau wohnten ganz am Ende.
Direkt vor dem Haus brachte Amadeo den Wagen zum Stehen. Es lag ein Stück von der Straße zurück hinter hohen Hecken, doch schon jetzt war zu erkennen, dass kein Licht brannte. Überhaupt schien in der gesamten Straße niemand zu Hause zu sein, ausgenommen in einem Mehrparteiengebäude am Eingang der Sackgasse.
Amadeo stellte die Zündung ab und verharrte einen Augenblick schweigend. Mehrere andere Fahrzeuge parkten am Straßenrand; Menschen waren nicht zu sehen. Der Restaurator holte Luft, öffnete die Tür und kletterte ins Freie, griff nach der Aktentasche mit den Unterlagen aus Einsteins Depot.
Leichter Dunst lag in der Luft, nicht viel anders als am Vorabend in Rom. Allerdings war es wesentlich kälter dabei, und es war still. Gespenstisch still, dachte Amadeo, wie auf dem Friedhof. Ein Schauer durchfuhr ihn, der nichts mit der Kälte zu tun hatte.
Helmbrecht war nicht tot! Amadeo weigerte sich, den Gedanken auch nur in Betracht zu ziehen. Lesen! Lösen! Herbringen! Ein Toter stellte keine solchen Forderungen, und auch auf dem Anrufbeantworter
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