Das Babylon-Virus
ankam, kann bereits durch drei Dutzend Hände gegangen sein. Er könnte aus der Antike stammen; damit wären wir zwei Jahrtausende näher dran an Babylon.«
Nachdenklich betrachtete Amadeo das mürbe Papier in der Hand des alten Mannes. »Goethes Text hat Einstein ja auch nicht direkt erreicht. Als Einstein geboren wurde, war Goethe lange tot. Das Gedicht muss von Hand zu Hand gegangen sein: Alles große Geister, aber keiner von denen hat den Code entschlüsseln können - bis Einstein kam.«
Helmbrecht hob die Schultern. »Passiert den Besten von uns.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Nur jetzt darf es nicht noch einmal passieren. Einstein glaubte, es sei ein Spiel, Goethe glaubte, es sei ein Spiel. Ich selbst glaubte es mehr als fünfzig Jahre lang. Doch das ist es nicht.« Er deutete auf das Gedicht. »Dieses angebliche Spiel ist unsere einzige Chance, und um unseren nächsten Schritt zu machen, müssen wir das hier deuten.«
»Und das können Sie nicht?« Amadeo bemühte sich, seine Enttäuschung nicht zu deutlich werden zu lassen - mit begrenztem Erfolg, wie Helmbrechts säuerliche Miene bewies.
»Ich kann es lesen«, brummte der alte Mann. »Deuten können Sie doch so hübsch, oder wie war das mit der Neununddreißig?«
»Da hatte ich Hilfe«, murmelte Amadeo. Der junge Niccolosi, Rom, die gesamte officina schienen gerade ein ganzes Leben weit entfernt zu sein. »Fällt Ihnen denn irgendwas Besonderes auf an diesem Gedicht?«, fragte der Restaurator.
»Hmmm …« Helmbrecht hielt das Blatt dicht vor seine Nase. »Das Metrum haben Sie bemerkt?«
»Es ist unregelmäßig.« Amadeo nickte. »Hat Goethe ja häufig gemacht. Im Erlkönig geht das hin und her, Trochäen, Daktylen …«
»Metrum?« Rebecca hatte sich an der Arbeitsfläche vorbeigeschoben und blickte dem Professor über die Schulter. »Das ist der Rhythmus des Gedichts, oder? Der Takt, wie in der Musik.«
»So ähnlich«, murmelte Amadeo. »Die Abfolge der betonten und unbetonten Silben. Zu den Bergen/gegen Morgen - mit einer betonten Silbe fängt es an, dann unbetont, betont, unbetont und so weiter. Das ist ein Trochäus. Das ganze Gedicht …« Er ging neben dem Professor in die Hocke und ließ die Augen über die Zeilen gleiten. Jetzt, nachdem Helmbrecht vorgelesen hatte, fiel es ihm leichter, die Buchstaben zuzuordnen. »Das ganze Gedicht ist in Trochäen geschrieben. In jeder Zeile geht es mit einer betonten Silbe los und dann immer abwechselnd. Was sich ändert, ist die Zahl der Silben in den einzelnen Zeilen. Das merkst du, wenn du den Text leierst. In den kürzeren Zeilen etwa hast du immer zwei betonte und zwei unbetonte Silben: ZU den BER-gen/GE-gen MOR-gen/VOLL der SORGEN /ZIEHN sie …«
»Ach, das meinst du! WAL-le WAL-le/MAN-che STRECKE /DASS zum ZWE-cke/WASS-er FLIE-ße/UND in REICHEM /VOLL-em SCHWA … Amadeo?«
Der Restaurator starrte sie an. »Das ist identisch«, flüsterte er. »Professor! Hören Sie das?«
Helmbrecht hatte schon zurückgeblättert, prüfte eine der früheren Strophen. »Die Zahl der Silben wechselt«, flüsterte der alte Mann. »Aber sie wechselt regelmäßig. Genau wie das Reimschema. Das ist …«
»Das ist der Zauberlehrling !«, hauchte Amadeo. »Goethes berühmtestes Gedicht! Dasselbe Schema! Versmaß und Reimschema! Hat Goethe das häufiger gemacht?«
Helmbrecht zögerte, schüttelte dann den Kopf. »Das wäre mir nicht bekannt, und ich behaupte, dass ich so ziemlich alles gelesen habe, was Goethe geschrieben hat.« Er blickte auf die Handschrift. »Jetzt jedenfalls.«
»Das Schema!« Amadeos Herz überschlug sich. »Wenn wir das Schema erkannt haben, können wir den Code knacken!
Genauso war es bei Einstein! Und das hier ist viel einfacher!«
»Für euch vielleicht«, wandte Rebecca ein. »Aber für Einstein? Der kam doch ganz woanders her, wissenschaftlich.«
Der Restaurator nickte. Sie hatte recht. Wahrscheinlich war es genau das, was einen besonders großen Geist ausmachte - dass er über den Tellerrand hinwegsehen konnte, auf die Dinge, die eigentlich so gar nicht seine Welt waren. Der Schlüssel zu Einsteins Code hatte letztendlich in der Mathematik gelegen, einer völlig fremdartigen Materie für einen Paläographen. Goethes Code zu durchschauen sollte für Amadeo selbst und den Professor tatsächlich sehr viel einfacher sein.
»Als der Menschen Schar dereinest / nach dem Osten auf sich machte …«
Helmbrecht begann den Text mit leiser Stimme vorzutragen, von Anfang an und
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