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Das Babylon-Virus

Das Babylon-Virus

Titel: Das Babylon-Virus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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in einem Ton, der den alten Mann nicht eben für die höheren Weihen der Rezitationskunst empfahl. Doch Amadeo begriff den Grund: Durch diese leiernde Sprechweise wurde die Regelmäßigkeit, die Abfolge und Anzahl der betonten und unbetonten Silben erst deutlich.
    »Bei Einstein war es jedes neununddreißigste Zeichen«, überlegte der Restaurator laut. »Mathematik, die Welt der Zahlen. Bei Goethe waren es eher die Worte - vielleicht wirklich das Metrum, das Reimschema - oder aber die Geschichte selbst, die Art und Weise, wie er sie erzählt. Er könnte etwas reingebracht haben, das dort nicht hineingehört. Ein Motiv, das uns …«
    »… Stein auf Steine / Schicht auf Schichte / hin zum Lichte / aufwärts steige …« Der Professor ließ sich von der mangelnden Aufmerksamkeit seines Publikums nicht beirren.

    »Aber das haben wir doch schon.« Auf Rebeccas Stirn zeigte sich eine steile, senkrechte Falte. »Die Seuche gehört nicht rein.«
    Amadeo schüttelte den Kopf. »Die Seuche gab es wirklich, die hatte er aus dem Vorgängertext. Es muss etwas anderes sein. Der Schauplatz vielleicht. Oder es hängt mit der Vorlage zusammen, mit dem Zauberlehrling.«
    »Der Zauberlehrling spielt auf einer Burg«, grübelte Rebecca. »Jedenfalls in Fantasia . Du weißt schon, der Film mit Micky Maus.«
    »Eine Burg«, murmelte der Restaurator. »Ich glaube nicht, dass im Gedicht eine Burg vorkommt. Und den Film hat Goethe nie gesehen.«
    »Hören Sie zu!«, unterbrach ihn der Professor. »Die Stelle hier ist gut. Jetzt wird’s dramatisch. Gottvater Jahwe spricht!«
    Engel, eilet!
Dies zu enden
will ich senden
Pestilenzen.
Die ihr Krankheits Keim verteilet,
weiset mir dies Volk in Grenzen!
    »Eindrucksvoll«, murmelte Amadeo. Das musste man Helmbrecht lassen: Den grollenden Tonfall des alttestamentarischen Herrgotts bekam er nicht übel hin. Der Restaurator glaubte die folgende Szene geradezu bildlich vor sich zu sehen, die Verwirrung, den Unglauben der Menschen, die plötzlich nicht mehr verstehen konnten, was sie zueinander sprachen:
    Menschen, die gleich Brüdern waren,
sieht man Zung’ und Sprach’ sich wirren.
Matt lässt’s Volk die Steine fahren,
um in fernste Land zu irren:
Dumpfer Wälder Hitze,
Nordlands eis’ge Luft.
Gottes Erben Sitze,
Gottes Sohnes kühle Gruft.
     
    Süden, Norden,
Osten, Westen,
zieh’n die Besten …
    »Halt!« Amadeo keuchte. Er lauschte den Worten nach.
    »Zurück!«, flüsterte er. »Bitte, die Strophe davor! Dumpfer Felder Hitze …«
    »Wälder!«, widersprach Helmbrecht. »Nuschel ich? Möbius’ Spritze sollte doch noch wirken, oder?«
    »Wälder.« Amadeo nickte. »Bitte!«
    Der Professor holte Atem:
    Dumpfer Wälder Hitze,
Nordlands eis’ge Luft.
Gottes Erben Sitze,
Gottes Sohnes kühle Gruft.
    »Das ist es!« Amadeos Stimme war rau. »Hört ihr das?«
    Rebecca legte den Kopf schräg. »Zweimal kurz hintereinander nennt er Gott. Meinst du das?«
    »Nein«, murmelte Amadeo. »Nicht die Worte. Das Versmaß! Das Geheimnis liegt im Versmaß! Genau wie bei Einstein: Das Geheimnis liegt in der Form, nicht im Inhalt! In der letzten Zeile sind zwei Silben zu viel!«

    Der Professor blickte auf die verschnörkelten Buchstaben. »Himmelhundehölle, Sie haben recht, Amadeo! Nordlands eis’ge Luft . DA-da DA-da DA. Aber dann - Gottes Sohnes kühle Gruft . DA-da DA-da DA-da DA. Ein Dada zu viel!«
    »Und wenn das ein Versehen war?«, warf Rebecca ein.
    »Versehen?« Amadeo und sein Mentor überbrüllten einander beinahe in ihrer Empörung.
    »Goethe unterlaufen keine Versehen «, bemerkte Helmbrecht pikiert. »Außerdem sind diese Silben …« Er schüttelte den Kopf. »Das kühle ist doch völlig überflüssig.«
    »Gottes Sohnes kühle Gruft«, sagte Amadeo leise. »Das ist der Hinweis, und das …« Ihm blieb die Luft weg. »Das ist eine Ortsangabe! Die Gruft des Gottessohnes! Das Heilige Grab in Jerusalem!«
    »Donner und Andrea Doria«, murmelte Helmbrecht. »Mein lieber Amadeo, Sie haben es! Es ist tatsächlich …« Der alte Mann verstummte.
    »Professor?« Alarmiert beugte Amadeo sich über ihn. »Sind Sie nicht in Ordnung?«
    »Moment. - Holen Sie mal eine von den Lampen!«
    Irritiert gehorchte Amadeo und löste einen der Klemmstrahler vom Rand der Arbeitsfläche. Über Helmbrechts Schulter hinweg leuchtete er auf den Schreibbogen. »Was ist denn los?«, fragte er leise.
    »Und eine Lupe!«, befahl der Professor. »Die große runde. - Haben Sie meine Brille

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