Das Babylon-Virus
Mauer auf dieser Seite höher war.
»Das ist die Aurelianische Stadtmauer«, sagte er schwer atmend. »Gegen die Barbaren, als sie die Grenzen nicht mehr sichern konnten. Am Anfang war sie nur sechs oder sieben Meter hoch, aber später hat man aufgestockt auf …« Er sah Rebeccas Gesichtsausdruck. »Interessiert dich nicht im Moment«, stellte er fest.
Noch immer waren Schüsse zu hören, doch Amadeo musste die Ohren nun anstrengen. Wer immer da aufeinander feuerte, befand sich am entgegengesetzten Ende des Friedhofsgeländes. Für den Augenblick waren sie in Sicherheit.
Nur machte das kaum einen Unterschied. Von der Porta her, ein paar hundert Meter entfernt, tönte der Verkehrslärm. Es war nicht weit zur Amüsiermeile an der Piazza Albania, wo Amadeo vor zwei Tagen auf den jungen Niccolosi und seine Flamme gestoßen war, doch die Straße war unerreichbar von hier aus.
Ein neuer Laut mischte sich in die Geräuschkulisse: der grelle Ton von Sirenen. Hektische blaue Lichter, Streifenwagen. Sie rasten an der Porta vorbei, verschwanden in den Schatten Richtung Via Caio Cestio. Die Wachleute mussten Verstärkung gerufen haben.
»Was ist da bloß los?«, murmelte Amadeo. »Auf wen schießen die?«
»Wer immer es ist«, sagte Rebecca langsam. »Wir haben ihm den Weg frei gemacht.« Sie legte den Kopf etwas schief, horchte. »Nicht ihm«, murmelte sie. »Ihnen. Duarte hat ihnen den Weg frei gemacht, oder die Stadtwerke, als sie die Stromzufuhr gekappt haben. Sonst wären sie niemals über die Mauer gekommen - genau wie wir.«
»Denkst du, es sind …« Amadeo war schwindlig. Er tastete
über seine Jacke. Das Brevier war noch an Ort und Stelle. »Es sind die Leute, die Fernwaldt getötet haben? Der Blonde?«
»Alles andere wäre ein seltsamer Zufall«, murmelte sie. »Ich wohne noch nicht so lange in Rom wie du, aber dass es auf dem Friedhof regelmäßig Schießereien gibt, wär mir neu.«
»Aber wenn die uns …« Amadeo schüttelte den Kopf, auch in einem Versuch, ihn wieder klarzubekommen. »Das hätten sie doch viel einfacher haben können! Draußen auf der Straße, vorhin im Park. Ist das nicht merkwürdig, irgendwie? Wir hätten doch gar keine Chance gehabt! Die haben sogar Schalldämpfer! Bis da einer was mitgekriegt hätte!«
»Merkwürdig«, murmelte Rebecca. Ihre Stimme hatte einen seltsamen Klang. »Du sagst es. - Wie kommen wir hier raus?«
Rom, Via Caio Cestio
Steffen Görlitz starrte in die Finsternis. Die Nachbilder der Blaulichter zuckten noch vor seinen Lidern, doch von der Dachterrasse des Transportunternehmens aus hatten sie beobachtet, wie sich die Einsatzfahrzeuge entfernten. Der Protestantische Friedhof lag wieder im Dunkel.
Es machte keinen Unterschied. Verholens Männer hatten keinen Grund, dorthin zurückzukehren.
August von Goethes Grab war leer - bis auf die Leiche.
Fanelli war schneller gewesen.
Ein paar Schritte entfernt ging Verholen auf dem geschotterten Flachdach auf und ab wie eine Raubkatze im Käfig, zischte Befehle in sein Handy, hielt sekundenlang inne, um zu lauschen.
Ein Gefühl der Lähmung hatte von Görlitz Besitz ergriffen.
Es war ein Déjà-vu. Versagt, zum zweiten Mal versagt, dabei hatte er sämtliche Trümpfe in der Hand gehabt. Niemand kannte sich mit Goethes Handschrift aus wie Steffen Görlitz. Niemand - der alte Helmbrecht ausgenommen.
»Verfluchter alter Narr!«, flüsterte Görlitz. Der Professor musste Fanelli geholfen haben. Unmöglich, dass der Restaurator selbst den doppelten Code so schnell durchschaut haben sollte, der im Versmaß gelegen hatte und in der Form der Buchstaben.
»Das ist gegen die Regeln«, flüsterte Görlitz. Einstein wie Goethe hatten sich ganz eindeutig nur an den einen größten Geist der jeweiligen Generation gewandt. Immer nur einer! Immer nur der Beste! Von Teamarbeit war nie die Rede gewesen, und das war auch gut so. Die ganz Großen arbeiteten nicht im Team. Die ganz Großen waren einsame Wölfe; sie konnten keinen anderen neben sich dulden. Null oder eins, eins oder null. Leben oder Sterben.
Görlitz verstand das. Die ganz Großen waren Männer wie er.
Und Fanelli war zu seinem Professor gelaufen und hatte Bittebitte gemacht. Schon das bewies, dass der Kerl nicht das Geringste begriffen hatte.
Görlitz war außer sich vor Wut. Es fühlte sich an, als wollte diese Wut ihn von innen her verbrennen wie ein bösartiges Geschwür, weil in seinem Innern einfach nicht genug Platz war für diese Wut. Größer als die Wut
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